„Wer ist überhaupt diese Marnie?“, fragt Leonie und lässt den fließenden Viskosestoff des Kleides durch ihre Finger gleiten. „Eine Filmfigur aus einem Psychothriller“, sage ich. „Hitchcock. Ein Klassiker. Ist gut.“ Leonie rümpft die Nase. Ihre blonden Haare hat sie heute kunstvoll hochgesteckt, irgendwie passend zu diesen merkwürdigen Klamotten, die heute Premiere feiern. „Ist ja auch egal. Wen interessieren schon alte Filme. Das hier ist auf jeden Fall das Must Have der Saison. Die Plateausandalen brauche ich auch. Nimmst Du den Rock und die Bluse?“ Ich nicke und denke daran, dass meine Eltern mir diesen Monat ein bisschen Geld extra überwiesen haben. Weil alles so gut läuft mit dem Studium und ich nebenbei ordentlich im Supermarkt jobbe, um mein Zimmer alleine zu bezahlen. Viel davon wird nach dem Einkauf allerdings nicht mehr übrig bleiben. Verstohlen blicke ich auf die Preisschilder, als wir uns an der übervollen Schlange an der Kasse einreihen. Es geht auf jeden Fall kein Weg an der Marnie At H&M Collection vorbei. In dieser Saison. Sagen Leonie und Manu, mit der wir uns gleich im Starbucks an der Ecke treffen. Marnie. Schöner Name. Den Film könnte ich auch mal wieder sehen.
„Cooles Shirt“, sagt der Typ an der Kasse und zwinkert mir zu. Er hat ein Lippenpiercing und dazu passende Lippen. Sehr schöne Lippen, wie ich jetzt feststelle. Ich sehe langsam an mir runter und fühle das Blut in meinem Gesicht pulsieren. Ausgerechnet heute, am Tag der Marnie- Collection- Premiere habe ich das verwaschene Foo Fighters- Shirt von der Tour von vor etlichen Jahren über meine Jeans geschmissen. „Viel Spaß damit“, sagt er noch mit einer hochgezogenen Augenbraue, als er mir eine giftgrüne Plastiktüte in die Hand drückt und wir uns länger ansehen, als wir eigentlich müssten.
Manu wartet schon bei einem Cafe Latte und schielt gierig auf unsere Ausbeute und missbilligend auf mein T- Shirt.
„Kennst Du eigentlich den Film?“, frage ich. „Was für einen Film“? „Na den von Hitchcock“. Manu prustet. „Das ist nicht Dein ernst, oder? Marni ist ein italienischer Designer. Du Filmfreak.“
Auch Leonie lacht jetzt laut, als wäre diese Erkenntnis der Witz des kommenden Jahrtausends. Ich stelle die Tüte ab und grinse in mich rein. Jaja. Meine Freundinnen. Sie sind schon irgendwie schrullig mit ihren verwegenen Tribal- Tattoos, die früher Symbole für Geschichten von Verbrechern oder Seefahrern waren und die heute jedes Gesäß einer Fleischwurstfachverkäuferin verschönern. Ohne Geschichten zu erzählen, schon gar keine verruchten. Mit ihren Swarovski- Glitzersteinchen an den manikürten Fingerchen. Ein italienischer Designer, so angesagt. Was für Ischen. Auf der Straße fischt sich ein verwittert aussehender Mann eine Pfandflasche aus dem Mülleimer.
„Ganz klar eine Bildungslücke“, sage ich und wir alle lachen schließlich laut. Wir plaudern stundenlang über Gott und die Modewelt, alte und neue Filme und trinken Milchcafe. Leonie und Manu wollen später noch ins Fitnessstudio, natürlich ohne mich. Als würde ich dort jemals freiwillig hingehen.
„Sehen wir uns später? Hast Du Marnie auf DVD? Wissenslücken und so.“. „Klar, bringt Chips mit. Bacardi und Eis habe ich noch da.“ „Was machst Du bis dahin?“, fragt Leonie und mir fällt wieder auf, dass sie diesen an Allem interessierten, offenen Blick hat. „Ich tausche jetzt diese bescheuerten Mädchenklamotten um, die stehen mir doch gar nicht“, lache ich. „Wolltest Du Dir nicht auch noch was aussuchen?“, frage ich Manu. „Nee, keine Kohle.“ Dann umarmen wir uns noch herzlich zum Abschied.
„Habe ich mir fast gedacht“, zwinkert der Typ an der Kasse. „Passt überhaupt nicht zu Dir.“ „Dann ist ja gut“, murmele ich. „Kommst Du mit zum See, in ein paar Minuten habe ich Feierabend“. „Schüchtern bist Du ja nicht grade. Dein Piercing da....?“ „Ist eine lange Geschichte“, erwidert er grinsend. „Später. Magst Du eigentlich Hitchcock? Ich könnte den Film jetzt direkt wieder sehen.“