Riikka Pulkkinen: Wahr

  • Riikka Pulkkinen: Wahr
    List 9. März 2012. 368 Seiten
    ISBN-13: 978-3471350713. 18€
    Originaltitel: Totta
    Übersetzerin: Elina Kritzokat


    Verlagstext
    „Ich muss von meinem Leben erzählen, das wird mir in letzter Zeit immer klarer. Wenn ich es nicht selbst tue, dann erzählt niemand davon“, sagt Elsa Ahlqvist kurz vor ihrem Tod. Was sie erzählt, wird das Leben ihrer Familie verändern, allen voran das ihrer Enkelin Anna. Denn Elsa entscheidet sich für die Wahrheit. Sie berichtet von dem schmerzhaften Ereignis, an dem sie beinahe zerbrochen wäre. Und Anna erkennt, dass sie endlich ihr Leben angehen muss, weil sie allein dafür verantwortlich ist.


    Die Autorin
    Riikka Pulkkinen, Jahrgang 1980, ist eine der erfolgreichsten jungen Autorinnen Finnlands. Wahr wurde für den wichtigsten finnischen Literaturpreis, den Finlandia-Preis, nominiert. Riikka Pulkkinen lebt in Tampere in Südfinnland.


    Inhalt
    Es ging alles sehr schnell. Bei der pensionierten, früher beruflich erfolgreichen Psychologin Elsa wird Krebs diagnostiziert. Hoffnung auf Heilung gibt es nicht und Elsa wird zum Sterben nach Hause entlassen. Dass Elsa nun auf die Hilfe anderer angewiesen ist, ist ungewohnt für sie. Bei der Pflege werden ihr Ehemann Martti, Elsas Tochter Eleonoora und die Enkelinnen helfen. Durch die schwere Krankheit rückt die Familie der Patientin gezwungermaßen näher zusammen. Martti bereitet das Sterben seiner Frau große Angst.


    "Doch dann fand er endlich eine Methode, sich selbst zu beruhigen. Er trat ans Fenster, öffnete es weit, schaute in den Himmel und lauschte der Amsel. Die Trauer gesellte sich leise zu ihm, und er ließ sie kommen, schloss Bekanntschaft, wie um sich vorsorglich an sie zu gewöhnen. Er entdeckte sie in der Haltung seiner Hände, in den halb ausgestreckten Armen. Der Trauer musste man Raum geben, man musste sie umarmen. Andernfalls überfiel sie einen als Entsetzen, plötzlich und ohne Vorwarnung, beim Überqueren einer Kreuzung oder im Geschäft vor den Mandarinen und Kartoffeln." (S. 12)


    Enkelin Anna hat offenbar ernste Probleme, die nicht mit dem Sterben ihrer Großmutter zusammenhängen. "In ihrem Leben breitet sich der Kummer wie ein Tintenfleck aus." (S. 32) Anna empfindet eine deutliche Entfremdung zum Großvater, dem sie als Kind sehr nahestand. Anna liebt einen Mann, der Vater eines Kindes ist, und müsste sich im Fall einer Trennung auch von dem Kind trennen. Eleonoora ist Chirurgin, ihre Tochter Maria studiert Medizin. Auf den bevorstehenden Tod ihrer Mutter reagiert Eleonoora extrem, als trauere sie bereits jetzt, bevor Elsa überhaupt gestorben ist. Die Familie Ahlqist verbirgt ein Geheimnis, das sie fest verschnürt hütet. Die Familienkonstellation wirft einige Fragen auf, wie die Medizinerin Eleonoora als betroffene Angehörige mit dem Sterben ihrer Mutter umgehen wird und auch was Elsa ihrer Tochter in der Kindheit für eine Mutter war. Als international hoch geachtete Psychologieprofessorin reiste Elsa oft zu Kongressen und ließ ihre kleine Tochter dann einige Wochen lang mit Martti und einem Kindermädchen zurück. Hat die Wissenschaftlerin, die theoretisch so viel über Beziehungen weiß, ihr Wissen in der Erziehung ihrer Tochter genutzt? In der Geschichte der vier Frauen aus drei Generationen breitet sich zunehmend die Geschichte einer fünften, abwesenden Frau aus, die in der Ich-Form erzählten Erinnerungen des Kindermädchens Eeva. Die bisher verschwiegene Eeva nimmt in der Handlung wachsenden Raum ein, während die Leser noch immer rätseln, was aus Eeva geworden ist.In den 60er Jahren betreute Eeva die kleine Eleonoora als Kindermädchen während Elsa beruflich unterwegs war. Martti zog sich dann jedesmal in sein Atelier zurück und überließ Eeva allein Haushalt und Erziehung. Ella liebt ihre Betreuerin innig und reagiert auf die Liebesbeziehung ihres Vaters zu "ihrer" Eeva mit extremen Gefühlen und Ängsten. Erst nachdem das vierzig Jahre zurückliegende Familiengeheimnis um Eeva gelüftet ist, können Elsa und ihre Familie voneinander Abschied nehmen.

    Fazit
    Rikka Pulkkinen hat mich mit ihrem feinfühlig erzählten Familienroman von der ersten Seite an so gefesselt, dass ich das Buch nicht wieder aus der Hand legen konnte. Die finnische Autorin zeichnet wunderbare Bilder von Kindheitserinnnerungen, idyllischen Sommern an einem finnischen See und von großen Gefühlen. Die Veränderungen, wenn Alte oder Kranke in den Augen ihrer Kinder wieder zu Kindern werden, das Abschiednehmen von der Mutter und speziell Eleonooras Umgang mit dem Tod in ihrem Privatleben beobachtet die Autorin mit großer Sensibilität. Die Charakterisierung der professionellen Helferin Eleonoora von ihrer privaten Seite, ihr Pendeln zwischen dem Wunsch nach Nähe, Rückzug und Kontrolle, zwischen Verletzungen in der Kindheit und dem Verbergen ihrer Gefühle vor der sterbenden Mutter hat mich sehr bewegt.


    10 von 10 Punkten

  • Am Ende eines Lebens kann es für jeden von uns von großer Wichtigkeit sein, ein persönliches Resümee zu ziehen, Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, Vergangenes aufzuarbeiten und eventuell offene Fragen noch rechtzeitig zu beantworten.


    So auch für Elsa, der 70-jährigen Protagonistin aus dem Roman "Wahr" von Riikka Pulkkinen, Elsa ist unheilbar an Krebs erkrankt. Da sie in Würde zuhause im Kreise ihrer Familie sterben möchte, bereiten sich ihr Mann, ihre Tochter und ihre zwei Enkelinnen auf das für alle Betroffenen schmerzhafte Abschiednehmen vor und begleiten Elsa auf ihrem letzten Weg. Neben Angst und Ungewissheit beschäftigt Elsa eines besonders, nämlich ein einschneidendes Ereignis aus lang zurückliegender Zeit, das nicht nur sie, sondern die ganze Familie auf eine harte Probe gestellt hat, deren Folgen bis heute zu spüren sind, über das jedoch nie gesprochen wurde. Elsa bricht das Schweigen und löst damit die notwendige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus.


    Riikka Pulkkinen hat eine bewegende, berührende Geschichte geschrieben, die sich nicht erstrangig mit Sterben und Tod beschäftigt, sondern vielmehr mit der Liebe und ihren zahlreichen Facetten. Obwohl das Geheimnis in Elsa's Familie schon recht früh gelüftet wird, verliert das Geschehen im Weiteren nicht an Format und Aussagekraft und vermag durchaus zu fesseln.
    Die junge finnische Autorin versteht es perfekt, ihre Figuren und deren Empfindungen detailliert und glaubwürdig zu schildern. Sie benutzt anschauliche Vergleiche und wendet Zeiten- und Perspektivwechsel an, die die volle Aufmerksamkeit des Lesers fordern. Eingebettet in eine bildhafte Darstellung von Landschaft, bedeutenden Situationen und gesellschaftlichen Begebenheiten, gelingt es ihr, geschickt Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu ziehen und den Kreis am Ende zu schließen.
    Der Roman besticht nicht durch eine temporeiche Handlung, sondern durch seinen bemerkenswerten Sprachstil, der poetisch, beinahe philosophisch Gefühle, menschliche Stärken und Schwächen, Glück und Unglück, Schuld und Unschuld und immer wieder die Höhen und Tiefen der Liebe zum Ausdruck bringt.


    Wenngleich meiner Meinung nach Elsa im Verlauf zu sehr in den Hintergrund tritt und am Schluss klärende Gespräche nur lückenhaft stattfinden, hat mich die Erzählung hauptsächlich durch ihre Wortgewalt gefangen genommen. Dennoch konnte ich das Buch nicht "in einem Rutsch" lesen und musste des Öfteren pausieren, um das Gelesene sacken zu lassen. "Wahr" hat mich traurig und nachdenklich gestimmt, weil die Geschichte von Elsa und ihrer Familie in treffender Weise Realität widergespiegelt, ohne künstlich zu wirken. "Wahr" gibt aber auch Hoffnung, denn: "Liebe ist der einzige Weg, die Welt Wirklichkeit werden zu lassen." (Zit.)

  • Was für ein Buch - ich musste mir viel Zeit dafür lassen, doch jetzt bin ich durch und habe versucht, meinen Eindruck einzufangen...



    Meine Meinung: Ich habe den interessant klingenden Klappentext dieses Buches gelesen und bin mit einer ganz anderen Erwartung an das Buch herangegangen. Merkwürdig –der Klappentext stellt eigentlich die Essenz dieses Buches gut dar und doch lässt er noch nicht einmal ansatzweise erahnen, was den Leser hier erwartet. Es ist die Sensibilität, sind die klugen, oft weise klingenden Sätze, die man teilweise mehrmals lesen muss, um ihren Inhalt in seiner ganzen Tragweite zu verstehen. Das Feingefühl der Autorin und ihr ungewöhnlicher Stil machen diese Geschichte, die nicht hauptsächlich vom Sterben handelt, zu etwas ganz Besonderem.


    Es geht um das Leben von Elsa, die nach ihrer Krebsdiagnose Abschied von ihrer Familie nehmen muss. Jahrelang hat sie geschwiegen, mit niemandem darüber gesprochen, dass es im Leben ihres Mannes und damit auch in ihrem Leben noch eine andere Frau gab –erst jetzt öffnet sie sich und erzählt ihrer Enkelin Anna davon. Für Anna, die eine sehr unglückliche Lebensphase durchmacht, finden sich sehr viele Parallelen. Es ist das immer gleiche Spiel: Ehemann und Vater, Geliebter, Geliebte, Betrogene und die Frage wer am meisten leidet, wer am Ende als Verlierer da steht.


    Das könnte banal und langweilig wirken und wie schon oft dagewesen, denn genau das ist es ja auch, in der Literatur, wie im realen Leben, doch Riikka Pulkkinen wählt hier eine ungewöhnliche Perspektive – die ehemalige Geliebte Eeva berichtet, was damals geschah und dann irgendwann beim Lesen merkt man, dass die Leben von Anna und Eeva ineinander verschwimmen, dass ihre Affären austauschbar zu sein scheinen und das ist es, was Anna auch erkennt und was ihr letztlich hilft.


    Es ist für mich ein wunderschönes Leseerlebnis gewesen, doch es war auch ein wenig anstrengend, denn man muss schon sehr aufmerksam bei der Sache sein, um die ganzen Verflechtungen rund um Elsa, Eeva, Anna und den anderen Familienmitgliedern zu verstehen. Zeitweise war ich ein wenig verwirrt, ob es nun um Anna oder um Eeva geht, doch ich glaube, genau das wollte die Autorin damit bewirken – die Darstellung der Beliebigkeit der einzelnen Personen…Obwohl es hier auch um den Tod geht, um den Abschied von der Liebe und vom Leben, so ist dies doch kein Buch das einen traurig zurück lässt. Ich werde es als einen nachdenklich machenden gut geschriebenen Roman in Erinnerung behalten, dessen kluge Dialoge mich immer wieder aufs Neue beeindruckt haben.


    Von mir 10 von 10 Pünktchen…



    Noch ein Zitat, damit man sich ein Bild von der Sprache machen kann: „Elsa stand auf, ging um den Tisch herum und umarmte ihn. So verharrten sie lange, ohne Worte. Irgendwann sagte Elsa:“Ich vermisse die Jahre, in denen noch Zeit war zu streiten. Mir kommt es so vor, als würde ich nicht mal mehr fluchen können, so dicht steht der Tod vor der Tür.“ (…) Der Abend dunkelte bereits, als sie zur Metrostation gingen, und keiner brauchte auszusprechen, was beide dachten: Das Leben, auch ein glückliches, ist in seinem Vollzug immer schlichter, als in den Träumen. Aber es wiegt mehr…