Den Abschnitt habe ich nun auch beendet.
Seite 35 (Ende Kapitel VI):
„Wenn alle nur auf Grund ihrer Überzeugungen Krieg führen würden“, sagte er, „dann würde es überhaupt keine Kriege geben.“
Das war der erste Satz, den ich mir unterstrichen habe, SiCollier.
Was mir an dem Buch besonders gut gefällt, ist, dass Tolstoi die historischen Gegebenheiten im Dialog bringt. So erfährt der Leser verschiedene Ansichten und zugleich einiges über die Charaktere.
Herzhaft lachen musste ich über den Vergleich:
„... und so wurde der Vicomte der Gesellschaft in der prächtigsten und für ihn selbst am vorteilhaftesten Beleuchtung vorgesetzt, wie ein mit Gemüse garniertes Roastbeef auf einer heißen Schüssel.“ (Bergengruen, dtv 19932, S.18.)
Makaber oder einfach schlecht übersetzt.
Französisch war damals in Adels- oder gehobenen -kreisen schon sehr verbreitet, denke ich. Ob es aber zu dem Zeitpunkt als das Buch veröffentlicht wurde (es erschien zuerst 1868/69 in Moskau), noch so verbreitet war?
Vielleicht hat Tolstoi die französischen Passagen einfließen lassen, um seiner Geschichte mehr Authentizität zu verleihen. Interessant finde ich die Stelle am Ende des 5. Kapitels. Fürst Ippolit entschuldigt sich, eine Geschichte russisch erzählen zu müssen. Tolstoi schreibt:
„Und Fürst Ippolit begann mit einer Aussprache Russisch zu sprechen wie ein Franzose, der etwa ein Jahr in Rußland gewesen ist.“ (Bergengruen, dtv 19932, S.30.)
Mit anderen Worten, ein Russe spricht seine Muttersprache, als wäre es eine Fremdsprache. Und die Anekdote, die zu nichts anderem offenbar dient, als zu einer Ablenkung, wird in einem einfachen Satzbau mit teils französischen Ausdrücken vorgebracht.
Am Damenbart würde mich eher interessieren, was einen Autor bewegt, so ein ungewöhnliches Detail in sein Buch aufzunehmen?
Der „kaum wahrnehmbare schwarze“ Schnurbart der kleinen Fürstin, der dann erstaunlich oft Erwähnung findet, hat mich auch überrascht. Überhaupt finde ich interessant, wie ausführlich Tolstoi Oberlippe und Unterlippe beschreibt. Wie er von kühlen und warmen Mienen bzw. Äußerungen spricht.
In mancher Hinsicht erinnert mich das Buch an die Jane Austen Romane; die spielen ja so ungefähr zur gleichen Zeit.
Das stimmt. Ein auffälliger Unterschied sind jedoch die ausführlichen Beschreibungen des Äußeren der Charaktere. Und noch etwas finde ich in dem Zusammenhang auffällig. Jane Austen geht davon aus, dass der Leser mit der gesellschaftlichen Etikette vertraut ist. Sie gibt keine Erklärungen, wenn ein Charakter einen Fauxpas begeht. Tolstoi, der das Französische einfließen lässt, so als ginge er davon aus, dass seine Leser dies auch beherrschen, weist uns darauf hin, welche gesellschaftlichen Fehltritte Pierre begeht. Pierre, der nicht nur nicht weiß, wie man einen Salon betritt oder wieder verlässt, begeht kurz hintereinander zwei Unhöflichkeiten.
„Vorher hatte er eine Dame verlassen, ohne sie bis zu Ende angehört zu haben; jetzt hielt er eine Dame, die ihn verlassen wollte, durch sein Gespräch auf.“ (Bergengruen, dtv 19932, S.16.)
Kannte sich „die Gesellschaft“ zu der Zeit, in der Tolstoi seinen Roman verfasst, nicht mehr mit der Etikette aus? Ist dies eine versteckte Kritik? Eine Belehrung?