Lost in Gekritzel

  • Quartalsmeeting ist angesagt. Eine dröge Veranstaltung. Ich bin übermüdet durch die Aktion der letzten Wochen. Sicher schlafe ich ein. Alle Abteilungen versammeln sich zum gegenseitigen Auf-die Schulter-Klopfen und Skandieren von Weiter-So-Parolen. Paula begleitet mich. Sie hat ihren Schreibblock dabei. Das ist ein Trost. Paulas Kunstwerke haben mich schon durch so manches langweilige Meeting gerettet. Alle sind sie da und rücken die Stühle zurecht. Der fette Harrison vom E-Commerce mit dem puterroten Gesicht. Die adrette Spolierenberg aus der Marketing-Abteilung. Der blasse Schluck Wasser Plonski vom Controlling und natürlich unser Boss Stauffer, heimlich Barbarossa genannt.


    Es hat noch nicht begonnen. Paula beginnt bereits ihre Kritzelei. Sie startet rechts oben in der Ecke des Blattes mit verzerrten Dreiecken, die sich spiralförmig nach außen winden. Der Stress der letzten Wochen hat Auswirkungen. Vor meinen Augen verschwimmen die Muster ineinander und tanzen durch mein Gehirn. Ein kleines Mädchen schaut mich an, mit Bettelblick. "Nein", sage ich. "Wir haben das doch schon tausend Mal diskutiert." Janna steht hinter ihr, die Augen gerötet, eine Hand liegt auf der Schulter meiner Tochter.


    Normalerweise lässt Stauffer Plonski erst die Erfolgsmeldungen des Quartals verlesen, aber heute hat er gleich selbst das Wort ergriffen. Gar nicht gut, denke ich. Da ist was im Busch. Plonski beamt die Folien an die Wand. Gezackte Linien, die abwärts deuten. Barbarossa fuchtelt mit dem Pointer herum wie Luke Skywalker mit dem Laser-Schwert. „Bedenkliche Lage“, „Abwärtstrend“, „Konsequenzen“. Wie durch eine Watteschicht dringen die Vokabeln an mein Ohr.


    Paula malt jetzt in geometrisch akribischer Weise kleine Kästchen zwischen die Dreiecke. Ich bewundere die Exaktheit ihrer Arbeit. Das ist echte Kunst, denke ich. Mir wird schwindelig. Mein kleines Mädchen ist enttäuscht und Jannas Augen signalisieren Unverständnis. Ich sage: "Wer soll denn immer mit ihm runtergehen? Am Ende bleibt alles an mir hängen." "Du bist doch sowieso nie zu Hause" dröhnt es in meinen Ohren.


    Die Spolierenberg zupft sich den Blazer zurecht. Als Erste hat sie den Schwarzen Peter zugeschoben bekommen. Plonskis Augen kleben geifernd an ihrem gepushten Busen. Wenn der wüsste welche traurigen Hängebrüste sich darunter verbergen. Danni-Maus, jetzt musst du Farbe bekennen. Möchte jetzt nicht in deiner Haut stecken. Ihr Mund ist zu einem zynischen Strich geschminkt. Er lächelt mir fast unmerklich zu. Die hat vor mich in die Pfanne zu hauen, ahne ich. Sie hat unser Intermezzo wohl zu ernst genommen. Meint sich rächen zu müssen. Aber das muss man ihr lassen, sie tut es subtil. Zum Mittelsmann ihrer Rache hat sie sich Harrison auserkoren. Sie berichtet von ihren hoch fliegenden Visionen, wie man den Absatz unserer mittelmäßigen Produkte im Online-Sektor verzigfachen hätte können. Die E-Commerce-Abteilung habe die Vorgaben des Marketings aber nicht zielführend umgesetzt.


    Aus den Dreiecken auf Paulas Blatt wuchern jetzt spiralförmige Dornen. Ein Gestrüpp das sich über das gesamte Blatt ausbreitet. Stachelige Ranken verlassen das Blatt kriechen über den Tisch, an mir empor, legen sich um meinen Hals und schnüren mir die Luft ab. Ich streichele meiner kleinen Jess über den Hinterkopf. „Wir könnten ihn nicht in den Urlaub mitnehmen. Wo sollen wir ihn lassen?“. Janna schüttelt den Kopf. Verachtung in ihren Augen. Die Geschichte mit Danni hat sie mir noch nicht verziehen.


    Harrison verteidigt den E-Commerce. Er spuckt Geifer und Galle. Sein roter Kopf ist knapp vor dem Zerbersten. Der Projektplan sei perfekt ausgearbeitet gewesen. Die Kampagne bis ins kleinste Detail geplant. Wochenlange akribische Arbeit. Speicheltropfen fliegen durch den Raum. Aber dann als die Aktion gestartet worden sei, das Desaster. „Seite nicht verfügbar“, sahen Millionen williger Kaufopfer. Die Server gecrasht. Als Harrison das sagt knirscht es zwischen seinen Zähnen. Aus seinem Mund fallen zerbröselte Leiterplatten. Er atmet eine Wolke Siliziumstaub aus. Aus seinem Mund rieselt graues Pulver.


    Paula kritzelt jetzt ein wildes Gekräusel auf das Papier und noch etwas Unbenennbares. Bunte Ringe tanzen vor meinen Augen. „Nein, Schluss jetzt damit. Keine Diskussion mehr.“ Jess dreht sich zu ihrer Mutter um. Janna drückt sie an sich und schaut mit leeren Augen durch mich hindurch in eine imaginäre Weite.


    Ich muss mich zusammenreißen. Die IT-Abteilung ist schuld, also ich. Ich schaue zu Paula hinüber. Die grinst mich an. Du machst das schon sagt ihr Blick. Und dann ist da noch etwas anderes in ihren Augen. Wir haben in den letzten Wochen Tag und Nacht hier zusammengehockt, um diese bescheuerte Werbeaktion zu ermöglichen. Irgendwann kam sie mit diesen Pillen an. Muntermacher sagte sie. Willst du auch? Und ich wollte.


    Ich habe mich wieder im Griff. Ich soll was sagen. Fragende Gesichter in der Runde. Wie konnte die Panne passieren. Mit sicheren Schritten schreite ich zur Leinwand. Ich mustere jeden Einzelnen. Die Spolierenberg hat etwas leicht Höhnisches im Augenwinkel. Harrison ist immer noch unter Dampf, Barbarossas Gesicht zu Stein erstarrt. Plonski sinkt in seinem Stuhl zusammen. Paula hat die Folien an die Wand geworfen. Kalkulierte Benutzeranzahl, geschätzte Belastungswerte, tatsächliche Benutzerzahlen im Verhältnis. Wer konnte ahnen, dass alle Welt an diesem blöden Gewinnspiel interessiert ist und dass Tausende in genau ein und demselben Moment wie wild herumklicken. Mein Trumpf-Ass halte ich noch in der Hand, um es Stauffer auf den Tisch zu knallen. Der Ausdruck einer E-Mail an das Controlling. Mein dringendes Ersuchen, einen Belastungs-Test durchzuführen. Zu teuer abgelehnt. Ich habe es schriftlich von unserem Sparfuchs Plonski.


    Paulas Block leuchtet in einem fluoreszierenden Neongelb. Ich schaue ihr in die Augen. Ein unheimliches rotes Glimmen, das immer stärker wird. Sie öffnet den Mund, der sich zu einem runden schwarzen Loch dehnt. Sie sagt etwas. Grünlicher Nebel quillt daraus hervor und verbreitet sich im gesamten Raum. Es hört sich an, als ob man ein Tonband zu langsam abspielt. Ich verstehe sie nicht.


    Ich kneife die Augen zusammen, lasse einen Ruck durch meinen Körper gehen. „Gut“, sage ich. „Es ist etwas schief gelaufen… Aber wir können noch etwas tun. Lasst uns diesen Hund kaufen. Einen kleinen, kuscheligen Hund“.


    Ich schaue in die Runde. Schweigen. Die Gesichter sind aufgedunsen und zeichnen ein feistes Grinsen.


    Eine Fleischmasse, die aussieht wie Stauffer klatscht in die Hände. Einmal, zweimal, dann immer schneller werdend. Frenetisch stimmen die Anderen in den Beifall ein. Eine Woge von Applaus bricht über mich herein, reißt mir den Boden unter den Füßen weg und nimmt mich mit in eine friedliche Dunkelheit.

  • Diese Geschichte habe ich vor einigen Tagen geschrieben, als ich Steffi meinen Themenwunsch für den SWB mitgeteilt habe. Leider hat sie sich nicht daran orientiert. Zur Not passt die Story auch zum Thema "Neid". Aber auf 500 Worte eindampfen, das kriege ich nicht hin. Also läuft das mal einfach themenfrei außer Konkurrenz ,denn im März werde ich kein Zeit zum Schreiben haben.

  • Gefällt mir. Gut geschrieben; es ist die Verquickung der Realität mit den gedanklichen Einschüssen die dieser Geschichte ihren ganz besonderen Reiz gibt, quasi ihren Stempel aufdrückt. Der Autor schildert die Rücksichtlosigkeit der Arbeitswelt, einer Arbeitswelt hinter der alles zurückzustehen hat, einer Arbeitswelt in der sich unendlich viele Menschen täglich bewegen, Menschen die alles tun, nur eben nicht sich gegen die Unmenschlichkeit aufzulehnen.
    Stilistisch bin ich echt beeindruckt. Ohne Frage mehr als ansprechend geschrieben. Daumen nach oben dafür. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich kann Arter verstehen. Er hätte über die Hälfte des Textes wegkürzen müssen. Und dann wäre nicht mehr viel übrig geblieben.


    Arter, :-)
    hast du gut gemacht. Gefällt mir. Am besten gefiel mir der Part mit dem Siliziumstaub.


    Auch ich kenne solche Meetings, manchmal möchte ich auch gerne wegnicken oder vorher etwas einschmeißen um es erträglicher zu machen. :help


    Ich kritzele übrigens auch solche Bildchen.


    Schade, dass wir nichts von dir beim Wettbewerb zu lesen bekommen. :-(


    Gruß

    Fay
    Ein Roman ist wie der Bogen einer Geige und ihr Resonanzkörper wie die Seele des Lesers. (Stendhal)

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  • Zitat

    Original von Johanna


    Hm, dazu sag ich mal nur - Badewanne.....


    :gruebelMein Gehirn kann diese Information nicht verarbeiten.


    Bitte um einen kleinen Tipp. :pille


    Danke Gruß :wave

    Fay
    Ein Roman ist wie der Bogen einer Geige und ihr Resonanzkörper wie die Seele des Lesers. (Stendhal)


  • Barschel - lügen - Badewanne...


    Fazit: Ich glaub Arter nicht, daß er nicht mitschreibt - wie auch sonst niemandem mehr :grin

  • Oh danke für das Lob, sogar Voltaire ... Ich bin gerührt. :wave


    Ich weiß nicht, ob es nötig ist zu betonen, dass die Geschichte komplett ausgedacht ist. Außer die Kollegin mit den Kritzeleien. Die gibt es wirklich. Und als Droge hat sie bei uns keine Pillen sondern Club Mate eingeführt. Achso und meine Tochter will wirklich einen Hund :lache


    Aber jetzt dürft ihr auch gerne noch ein bischen :hau :schlaeger

  • Zitat

    Original von arter
    Oh danke für das Lob, sogar Voltaire ... Ich bin gerührt. :wave


    Ich weiß nicht, ob es nötig ist zu betonen, dass die Geschichte komplett ausgedacht ist. Außer die Kollegin mit den Kritzeleien. Die gibt es wirklich. Und als Droge hat sie bei uns keine Pillen sondern Club Mate eingeführt. Achso und meine Tochter will wirklich einen Hund :lache


    Aber jetzt dürft ihr auch gerne noch ein bischen :hau :schlaeger


    Ich dachte ja, daß es sich um einen autobiographischen Bericht handelt... :wow





    :chen


    Was für einen Hund möche sie denn gerne?
    Ich kenne jemanden, der demnächst Border Collie Nachwuschs erwartet. Also nicht er, sondern sein Hund natürlich :grin


    Ich selber würd mir aber keinen Hund gönnen - da müßte ich ja ständig mit dem rausgehen - ne, ne, das ist mir viel zu stressig.

  • Zitat

    Original von arter
    Oh danke für das Lob, sogar Voltaire ... Ich bin gerührt. :wave


    Wenn mir etwas gefällt, dann sage ich es - es ist ja nun nicht so, dass ich immer alles in Grund und Boden kritisiere.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Etwas verwirrend, aber sehr unterhaltsam. Burnout-Opfer mit Fremdgeherqualitäten? Gefällt mir viel besser als die Kannibalengeschichte. Ich gehöre übrigens zur Kritzelfraktion. Eine weibliche Schwäche?

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

  • Zitat

    Original von xania
    Von mir hätte die Geschichte auch Punkte bekommen! Sehr gut! :-)


    Punkte hätte diese Geschichte von mir im Rahmen des Eulen-Schreibwettbewerbs nicht bekommen. Um da Punkte zu bekommen, hätte wohl ein wenig am Niveau gearbeitet werden müssen. :rofl :rofl :rofl


    Aber so außer Konkurrenz - wirklich bemerkenswert. Da gibt es wirklich schlechtere Geschichten. :wave


    Ohne Frage, der gute Arter kann schreiben - auch wenn es vielleicht für den Eulen-Wettbewerb noch nicht reicht; aber Übung macht bekanntlich den Meister......oder so...... :rofl :rofl :rofl

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Punkte hätte diese Geschichte von mir im Rahmen des Eulen-Schreibwettbewerbs nicht bekommen. Um da Punkte zu bekommen, hätte wohl ein wenig am Niveau gearbeitet werden müssen. :rofl :rofl :rofl


    Was denn? Runterschrauben, das Niwau?????? :gruebel


    (Arter, ich fand die Geschichte super. Aber sag mal, ich habe irgendwo den Faden verloren. Welches Thema hattest du mir nahegelegt???)

    Ship me somewhere's east of Suez,
    where the best is like the worst,
    where there aren't no ten commandments
    an' a man can raise a thirst


    Kipling

  • Steffi , wir hatte eine kurze Unterhaltung darüber, warum du mal was "nettes" schreiben wolltest. Und dann:


    Zitat

    Original von SteffiB


    Du bringst mich da auf was. Das neue Thema wird wahrscheinlich: "Mein Haustier"


    [SIZE=7]Edit fragt sich leise: Wer hat das blutrünstigste?[/SIZE]


    Schön dass du mit dem Gedanken spielst beim nächsten Mal wieder dabei zu sein. :wave


    Voltaire : so gefällst du mir :-] Damit kann ich wenigstens umgehen :chen