Hunde, die bellen, beißen nicht
27.10.2011
Änni marschierte gebückt die einsame Straße ihres Heimatdorfes „Sonnenstein“ entlang. Ihre knochigen Finger fassten verkrampft den Griff ihres Stocks. Sie lebte in Sonnenstein seit sie denken konnte. Sonnenstein lag inmitten der wunderschönen Vulkaneifel.
Sie wohnte etwas abgelegen vom Ortskern in einem Häuschen, das einem Hexenhäuschen glich. Draußen war es bereits dunkle Nacht. Der Winter war ins Land gezogen und der frische Wind wehte ihr um die Nase. Aus der Ferne konnte sie Hundegebell wahrnehmen. Das kleine Dorf lag wie ausgestorben vor ihr. Bei vielen Häusern waren die Jalousien heruntergelassen und die Familien saßen gemütlich vor den Plasmafernsehern oder wie man die neumodischen Dinger heute nannte. Sollten sie doch. Sie besaß keinen Fernseher. Die wussten doch alle gar nicht wie gut es ihnen ging. Und sie? Was war mit ihr? Sie lebte schon lange allein und niemand gesellte sich zu ihr. Nicht nur die Erwachsenen wandten ihr den Rücken zu. Nein, auch Kinder beschimpften sie als Hexe und riefen ihr, wenn sie tagsüber doch mal durchs Dorf marschierte, beleidigende Dinge zu. Sie mochte vielleicht ein verschrumpeltes Gesicht haben, aber das lag daran, dass sie eine alte Frau war. Mit 70 Jahren war es doch normal, dass man Falten hatte. Sie war eine alte Jungfer. Sie war nie verheiratet gewesen und nachdem ihre Eltern gestorben waren, war sie allein. Mutterseelen allein. Zum Begräbnis ihrer Eltern waren immerhin ein paar ältere Leute aus Sonnenstein gekommen. Doch sie musste alles selbst organisieren. Sie war Einzelkind, hatte keine Freunde und es fand sich niemand, der mit ihr die Zeit verbringen wollte. Traurig sah sie sich im Schein der Straßenlaternen um.
Dort, auf der anderen Seite, stand ein neues, mit Klinkern verkleidetes Einfamilienhaus. Sie betrachtete das Haus eine Weile. Aus einem Fenster, vermutlich das Wohnzimmerfenster, leuchtete ein orangenes Licht. Vor dem Haus hielt ein neuer, pompöser Mercedes. Die Besitzer des Hauses schienen Geld zu haben. Vielleicht hatten sie im Lotto gewonnen? Rechts auf der Wiese stand ein Trampolin. So, wie man sie heute in vielen Gärten stehen sah. Es gab also auch Kinder. Änni fragte sich, was für einen Beruf der Mann wohl haben mochte. Denn bei einem neuen Haus und Auto mussten sie schon viel Geld auf der hohen Kante haben.
Änni lief die Straße weiter entlang. Sie hoffte, dass die älteren Jungs nicht mehr im Bushäuschen waren. Das war der allabendliche Treffpunkt der Jugendlichen. Denn diese konnten ihr wirklich Angst einjagen. Mutig ging Änni weiter. Sie wollte, bevor sie sich ins Bett legte und wahrscheinlich wieder die ganze Nacht wach lag, - sie schlief schlecht in letzter Zeit, die Einsamkeit machte ihr schwer zu schaffen – noch ein bisschen laufen. Sie näherte sich dem Bushäuschen und sie hörte nichts. Erleichtert atmete sie auf und beschleunigte das Tempo.
Doch dann, sie wusste nicht wie ihr geschah, tauchten wie aus dem Nichts vier Jungs auf und bildeten einen Kreis um sie.
„Ah. Die alte Hexe! Komm Du Hexe! Tanz mit uns den Hexentanz.“ Änni erschrak so sehr, dass sie am ganzen Leib zitterte. Mit einem Mal fror sie fürchterlich, ihr Herz hämmerte bis zum Hals und sie schwieg. Die Jungs liefen laut johlend um die alte Frau. Änni ließ sie gewähren, stand eine Todesangst aus und hoffte, dass die Jungs bald aufgaben.
Ben, ein großer und kräftiger Junge rief ununterbrochen:
„Hexe! Hexe! Du alte Hexe! Scher dich doch zum Teufel! Wo du hin gehörst. Hexe, du böse Hexe!“ Gerne hätte Änni einfach ihren Stock, den sie festumklammert hielt, so dass die Fingerkuppen weiß hervor lugten, ausgestreckt und die Jungs damit vertrieben. Doch sie konnte nicht. Sie war einfach zu schwach. Die anderen Jungs tanzten und sprangen weiter um sie herum.
„Geh zurück zum Hexenhäuschen und schau mal nach Hänsel und Gretel.“ war der nächste Spruch, der kam von Tim. Vom Sehen und Hören sagen kannte Änni die Jungs alle. Auch wenn niemand im Dorf sie mochte, so kannte sie doch alle Leute. Denn, wenn sie unterwegs war, spitze sie ihre Ohren und lauschte anstrengt. Während die anderen Jungs noch weiter um Änni herumsprangen und sie beschimpften, verhielt Kai sich plötzlich ruhig. Kai hatte nur mit gelacht, aber noch keine Gemeinheit über Änni gesagt. Er war ein anständiger Junge und seine Eltern hatten ihm eingebläut, dass man alte Menschen nett behandeln und sie nicht ärgern sollte.
Er erinnerte sich plötzlich an ein Erlebnis von früher. Er saß mit seiner Mutter in der Küche und sie sahen Änni am hellsten Tag am Haus vorbei gehen. Wie immer in gebückter Haltung und mit ihrem Stock. Als er seine Mutter gefragt hatte, wieso Änni alle als Hexe bezeichneten, hatte sie gesagt, Änni sei eine alte Frau, die nie einen Mann oder Familie gehabt hatte. Auf seine Frage, ob Änni denn nicht einsam wäre, meinte seine Mutter nur:
„Nein Kai. Sie ist nicht einsam. Sie ist den ganzen Tag mit ihren Tees, Kräutern und vielem mehr, was Hexen nun mal so alles machen, beschäftigt. Außerdem verkauft Änni den selbstgemachten Tee, die Kräutersäckchen und auch die selbstgemachte Marmelade auf dem wöchentlichen Markt in der Stadt. Aber Hexen sind böse. Sie ist böse. Die Leute im Dorf erzählen, das sie früher immer Geschichten über Dorfbewohner erzählt hat, die nie gestimmt haben, so sind Gerüchte entstanden. Nun glaubt ihr keiner mehr ein Wort und alle hassen sie und bezeichnen sie als böse Hexe.“
Kai wurde plötzlich klar, das nicht Änni die Gerüchte verbreitet hatte, sondern das dummes Geschwätz der Leute war und das seine Mutter offensichtlich dem Geschwätz glaubte. Während Kai wie in Trance dort stand und die Erinnerung in tausenden von Bildern durch seinen Kopf rasten, betrachtete er Änni genauer. Er konnte sehen, dass sie total erschöpft und kraftlos dastand. Die weißen Fingerkuppen, ihren zittrigen Körper.
Ben und Tim beschimpften sie immer noch und rannten im Kreis um sie herum. Tobi machte mit, doch er lachte nur laut und es war ein hämisches Lachen. Kai schüttelte sich kurz und brüllte plötzlich so laut er konnte:
„Aufhören!“ Seine Augen suchten Ännis Blick und diese zuckte, bei seinem Schrei überrascht zusammen. Das Zittern erstarrte kurz. Sie drehte sich in seine Richtung. Ihre Blicke trafen sich. Die Jungs liefen weiter im Kreis und schrien böse Beleidigungen.
„Schluss jetzt!“ rief Kai so laut, das diesmal auch Ben zusammenzuckte.
„Was denn? Es macht doch gerade erst so richtig Spass! Jetzt sei kein Spielverderber und mach mit!“ Ben versuchte Kai in den Kreis zu ziehen. Doch Kai riss sich von ihm los und meinte bestimmt:
„Nein. Das alles macht gar keinen Spass. Wisst ihr überhaupt wie gemein ihr seid? Wie gemein wir waren?“ Plötzlich hielten die anderen in der Bewegung inne.
„Was denn?“ Kai schüttelte den Kopf über die Dummheit seiner Freunde.
„Jungs. Seht ihr das denn nicht?“ Er schob sich durch die Jungs durch und ging auf Änni zu.
Änni konnte kaum glauben, was da gerade geschah. Sie spürte jedoch, wie sie sich langsam entspannte und das Zittern etwas nachließ.
„Entschuldigen Sie. Aber es tut uns leid.“ sagte Kai ehrlich und mit gesenktem Kopf. Er blickte wieder auf, sah sie an und legte vorsichtig seine Hand auf die knochigen Fingerkuppen, die immer noch verkrampft den Stock hielten. Die anderen Jungs waren inzwischen ein gutes Stück zurück getreten und schüttelten verwundert den Kopf. Während Kais Hand weiterhin um die Fingerknöchel von Änni ruhte drehte er sich vorsichtig zu den anderen rum und meinte:
„Leute! Wir haben Änni zu Tode erschreckt. Schaut nur, sie zittert immer noch wie Espenlaub. Wisst ihr, Änni, mag zwar im Dorf als Hexe bezeichnet werden. Doch mir ist gerade einiges klar geworden. Es werden immer Märchen erzählt. Wer von Euch kann mir sagen, das Änni auch tatsächlich eine Hexe ist? Nur, dass sie Tee selber macht, Kräuter sammelt und selbst Marmelade und viele anderen Zutaten, die wir alle zum Leben brauchen selbst herstellt, heißt nicht, dass sie eine Hexe ist. Ich kann mir vorstellen und das hab ich früher schon öfters gedacht, das Änni an ihrem Häuschen am Ortsrand sehr einsam ist. Niemand besucht sie. Alle drehen ihr den Rücken zu. Was ist das für ein trostloses Leben? Gerade für eine Frau, die ihr Leben lang schwer gearbeitet hat und immer alleine war!“
Die Jungs schauten Kai erstaunt an. Was war denn mit dem los? Doch statt noch etwas zu sagen, schwiegen sie alle. Es war mucksmäuschenstill. Kai hatte Änni den Stock inzwischen aus der Hand genommen und hielt beruhigend ihre Hand.
„Jungs! Entschuldigt Euch bei Änni und geht dann nach Hause. Ich bringe sie noch nach Hause und mache mich dann auch auf den Heimweg. Ich hoffe, ihr habt heute alle Eure Lektion gelernt.“ Alle Jungs brachten ein leises „Entschuldigung! Tut uns leid.“ hervor und bis auf Ben, reichten sie Änni die Hand. Nachdem die Jungs sich auf den Weg gemacht hatten, leuchteten Ännis Augen und ein Lachen machte sich in ihrem Gesicht breit. Fast flüsternd sagte sie:
„Vielen Dank Kai. Es ist schön zu wissen, dass es noch Menschen wie Dich gibt.“
„Gern geschehen!“ entgegnete Kai, drückte Änni wieder den Stock in die Hand und brachte sie, wie angekündigt nach Hause. …
Ende
Ich hatte ja schon angekündigt, dass ich auch mal einen Text, der im Kurs "kreatives Schreiben" zustande gekommen ist, hier einstellen werde. Das habe ich mich nun getraut. Im Kurs wird natürlich nicht so streng bewertet. Man liest vor und bis jetzt waren immer alle von meinem Geschreibsel begeistert, was mich natürlich gefreut hat. ... Ich freue mich auch von Euch über Eure Kritik. ... Aufgabe war es zum o. g. Sprichwort, das ich auch gleich als Überschrift genommen habe, eine Geschichte zu schreiben. Die Länge war egal, sie musste nur eine Handlung und einen Wendepunkt haben. ... Und diese Story ist bei mir dabei heraus gekommen. Viel Spass beim Lesen!