Die Romane des schwedischen Autors John Ajvide Lindqvist einem Genre zuzuordnen, ist bisher nie einfach gewesen. Elemente von Phantastik, Horror und Thriller buhlten um die Gunst des Lesers und am Ende blieb das unbefriedigende Gefühl zurück, ein Buch gelesen zu haben, das weder Fisch noch Fleisch war. Mit dem vierten Roman "Wolfskinder" verhält es sich nicht anders. Doch was bisher Lindqvist Schwäche war, wird mit Wolfskinder zu seiner Stärke: der Roman entzieht sich jedem Versuch, ihn in eine Schublade zu pressen. Stattdessen besticht er mit einer Geschichte, die ihr eigenes, geschlossenes Universum schafft. Alles fügt sich nahtlos zusammen, nirgends klafft ein Widerspruch.
Wolfskinder erzählt die Geschichte einer unheilvollen Freundschaft: zwei Mädchen, denen die Gesellschaft keinen Freiraum zum Leben lässt, werden für einander zum Schicksal.
Da ist zum einen Theres, die als Säugling zum Sterben im Wald ausgesetzt und vom abgehalfterten Schlagerstar Lennart gefunden wird. Anstatt zu schreien oder zu weinen, gibt das Mädchen engelhaft reine, vollkommene Töne von sich. Lennart ist hingerissen und beschließt, das Kind fern von allen schädlichen Einflüssen aufzuziehen. Die Reinheit ihrer Musik soll unbedingt erhalten bleiben, und so versteckt er Theres im Keller, wo es isoliert von der Welt aufwächst. Bald zeigt sich, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmt - ihr Verhalten trägt autistische Züge: es fällt Theres auffallend leichter, zu unbelebten Gegenständen eine Beziehung aufzubauen als zu Lebewesen. Ein Wesenszug, den auch das zweite Mädchen, Teresa, in Grundzügen in sich trägt.
Teresa wächst mit zwei älteren Brüdern in einer "ganz normalen" Familie auf. Von Anfang an tut sie sich allerdings schwer, (spielerischen) Kontakt zu anderen Kindern zu finden. Je älter sie wird, desto weniger gelingt es ihr, ihren Platz unter Gleichaltrigen zu behaupten. Fast unmerklich rutscht sie erst in die Außenseiter-, dann in die Opferrolle.
Mit dem Begriff Wolfskinder werden Kinder bezeichnet, die nicht ausreichend in der menschlichen Gesellschaft sozialisiert wurden. Die prägenden Jahre verbrachten sie isoliert oder außerhalb der menschlichen Zivilisation, es fehlt ihnen das Rüstzeug, sich in der Gesellschaft zu bewegen und dort einen Platz einzunehmen. Während es bei Teresa schwer fällt, den genauen Zeitpunkt festzumachen, an dem sie aus dem Gefüge ihrer Klassenkameraden zu rutschen beginnt, ist Kellerkind Theres niemals Teil der Gesellschaft gewesen. Was aber nur zum Teil an ihrem gestörten Wesen liegt. Wer weiß schon, was aus ihr geworden wäre, hätte sie therapeutische Unterstützung bekommen?
Teresa und Theres finden zueinander und wie ein Doppelgestirn ziehen sie weitere Mädchen in ihren unheilvollen Bann.
Der Blick in die Seele dieser jungen Menschen, die ihren Platz noch nicht gefunden haben, die aufgrund ihres Andersseins von Gleichaltrigen bewusst oder unbewusst ausgeschlossen werden, ist tief, einfühlsam und mitreissend. Die Geschichte entwickelt einen ganz eigenen Sog, dessen Wirkung von den phantastischen Elementen, ohne die dies wohl kein Roman von Lindqvist wäre, noch unterstichen wird.
Fazit: Lindqvists bester, weil stärkster Roman.