Über Prosa - Warlam Schalamow

  • Der Klappentext
    Um das Unerhörte der Lagererfahrung vermitteln zu können, entwickelte Warlam Schalamow eine einzigartige literarische Sprache. „Über Prosa“ versammelt erstmals seine Reflexionen über das Schreiben und gewährt einen Blick in die Werkstatt der Wahrheit.


    Der Autor
    Warlam Schalamow wurde 1907 in Nordrussland geboren und ging 1924 zum Studium nach Moskau. 1929 wurde er zu Lagerhaft im Ural verurteilt, kehrte 1921 nach Moskau zurück. 1937 wurde er zum zweiten Mal verhaftet, er wurde in die Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss im Nordosten Sibiriens deportiert. 1956 erfolgte die Rückkehr nach Moskau, wo er 1982 verstarb.



    Meine Meinung
    Ein etwas anderes Format, Klappbroschur, Fadenheftung.
    144 Seiten.
    Vier Texte, sechs Briefe, Auszüge aus den Notizbüchern. Dazu Anmerkungen und ein Nachwort der Extraklasse von Jörg Drews.


    Wie das darstellen, was man erlebt hat – nein, nicht „man“, sondern er, der Schriftsteller Warlam Schalamow, in den 20 Jahren, zugebracht in stalinistischen Lagern. Wie begreiflich machen, was dieses Martyrium bedeutet: der Hunger, die Kälte, die unmenschlich schwere Arbeit? Wie deutlich machen, wie menschliches Sein gar nicht einmal so langsam zum „Nichtsein“ gerät? Wie kann es gelingen, das eigene Erleben, das eigentlich sich jeder Beschreibung entzieht, in Prosa umzusetzen? Die Fragen beantwortet Schalamow mit großer Rigorosität und ohne die geringsten Konzessionen an seine Leser:
    Schalamows Nachdenken über das Schreiben, über das Deutlichmachen des Grauens führt ihn weg von dem, was er „humanistische“ Literatur nennt (und unter anderem in Teilen die russische Literatur des 19. Jahrhunderts, nämlich Tolstoj und die von Tolstoj beeinflussten Schriftsteller meint) und hin zu einer „Prosa, die durchlitten ist wie ein Dokument“ (Seite 31). Wenn die Prosa reduziert wird auf reine Lakonie, auf die reine Tatsache, wenn es „keine Beschreibungen … kein Zahlenmaterial, keine Folgerungen“ (Seite 13) gibt, kann dann Unsagbares erzählt werden?
    Die Texte Schalamows sind eindeutig, lassen kein Abweichen zu, sind von einer Strenge, einer Unbedingtheit, die wohl bitter erworben war in seiner Odysse durch verschiedene Lager. Und weil Menschen, die unmenschliche Erfahrungen machen mussten, zum Beispiel in Konzentrationslagern, Bücher über „ausgedachtes Leben“ (Seite 7) kalt lasse, steht er dann da, der Satz, der zum Widerspruch reizt wie kaum ein anderer in Schalamows Texten und Briefen: „Der Roman ist tot.“ (Seite 7).


    Die in dem schmalen Band aufgenommenen Briefe, unter anderem an Pasternak und Nadeshda Mandelstam, reflektieren dieses Nachdenken über das Schreiben, über die Literatur, über das Lager. Es hat mich wenig überrascht, dass Schalamow durch die Lagererfahrungen in Bezug auf die Literatur zu sehr eindeutigen, strengen Ansichten gekommen ist. Tschechow ist beispielsweise für ihn wesentlich bedeutender als Tolstoj, den er deutlich mit Verachtung straft; den für ihn außerordentlichen Rang Puschkins und Dostojewskijs betont er immer wieder. Überraschend war für mich allerdings, mit welcher Verbitterung er auf Solschenizyn reagiert. In einem Brief an diesen lobt er Beschreibungen von ihm, gleichzeitig berichtigt und belehrt er ihn. Seine eigene Stellung innerhalb der russischen Literatur sieht er deutlich selbstbewusst, er hält seine Arbeiten für „unermesslich wichtiger“ (Seite 114) als die von Solschenizyn.


    „Ist denn die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat?“
    (Seite 30)


    Letztlich kann man Schalamows Denken und Schreiben wohl auf diese Frage reduzieren - und mit einiger Resignation darf man konstatieren, dass sie nichts an Aktualität verloren hat.
    Aber so sehr ich diese Frage bejahe und so sehr ich der Meinung bin, das (Lager)-Thema lasse sich in einem Roman darstellen: In dem von ihm propagierten Sinn wird der Roman schon allein deshalb nicht „tot“ sein, weil dieses Thema für viele kein Thema (mehr) ist – aus welchen Gründen auch immer.


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    ASIN/ISBN: 3882216425

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Ich werde mir das Buch notieren, aber da ich bisher noch nichts von Schalamow gelesen habe, ist vielleicht ratsam, zuerst "Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma" zu lesen.


    So habe ich es auch gehalten, d. h. eigentlich wollte ich alle vier Bände der Erzählungen aus Kolyma zwar mit zeitlichem Abstand, aber doch hintereinander lesen, aber Band 1 hat mich ziemlich verstört, darum habe ich "Über Prosa" dazwischen geschoben.
    Man kennt ja Solschenizyn und den Archipel Gulag, auch den Iwan D. - den Schritt zu Schalamow und den Unterschied zwischen beiden fand ich schon gewaltig.