Das späte Geständnis des Tristan Sadler - John Boyne

  • Englischer Originaltitel: The Absolutist



    Klappentext
    London, September 1919: Der junge Tristan Sadler steigt in einen Zug. Er fährt nach Norwich, um sich dort mit Marian Bancroft, der Schwester seines toten Kameraden Will, zu treffen, mit dem er Seite an Seite im Ersten Weltkrieg gekämpft hat. Als Gepäck trägt Tristan ein Bündel Briefe mit sich und seine Erinnerung.
    In Norwich trifft sich Tristan mit Marian in einem Café. Er erzählt ihr von seiner ersten Begegnung mit Will im Ausbildungslager Aldershot; von der Schiffspassage nach Nordfrankreich, vom Leben und Sterben im Grabenkampf, aber auch von der Freundschaft und dem Vertrauen, das sich die beiden jungen Männer schenken. Und er legt Zeugnis darüber ab, wie Will sein Leben einsetzt, um sich unter unmenschlichen Bedingungen einen Rest von Menschlichkeit zu bewahren. Tristans erschütternder Bericht ist ebenso schonungslos wie ungeheuerlich, und doch bleibt er Marian die schrecklichste Wahrheit schuldig ... vorerst.



    Der Autor
    John Boyne wurde 1971 in Dublin, Irland, geboren, wo er auch heute lebt. Er studierte "Englische Literatur' und 'Kreatives Schreiben' in Dublin und Norwich. Er ist der Autor von sechs Romanen, darunter "Der Junge im gestreiften Pyjama", der zwei Irische Buchpreise gewann, für den "British Book Award" nominiert war und vor kurzem verfilmt wurde. John Boynes Romane wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.Werner Löcher-Lawrence, geb. 1956, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Universität München und als Lektor in verschiedenen Verlagen. Er ist Übersetzer.






    John Boyne erzählt eine tragische Geschichte. Sie ist deprimierend und voller Schuld. Aber er erzählt sie zart und mit leichter Hand. Das ist ein Kontrast, der mich verwundert hat, aber andererseits hat es mir auch gefallen.


    Das Buch wird aus Tristans Sicht erzählt. Zu Beginn lernen wir ihn kennen, wie er unterwegs ist zu einer Reise nach Norwich, um Briefe seines im Krieg gefallenen Freundes Will an dessen Schwester zurückzugeben. Man merkt gleich, das Tristan schwer gezeichnet ist vom Krieg, trotzdem ist der Beginn voller Nichtigkeiten, die Begegnung mit einer Mitreisenden, ein kleiner Vorfall in seinem Hotel oder eine Unterhaltung im Pub. Einfache Beschreibungen des Alltags, und doch sind sie unterschwellig durchdrungen und dadurch verdorben vom Nachhall des Krieges. Nebenbei erfahren wir auch mehr aus Tristans Vergangenheit und wie es dazu kam, das er sich bereits mit 17 als Soldat meldete und mit seinem Alter etwas schummelte. Als er Will Schwester trifft, gehen wir mit ihm auf die Reise in seine Kriegserlebnisse. Und so wie er Marian erst nach und nach erzählt, was geschah, so erfahren auch wir erst ganz zum Schluß das ganze Ausmaß.


    Das Tristan homosexuell ist kann man schon sehr rasch aus den Zeilen herauslesen. Vor 100 Jahren war das noch eine undenkbare Sache, ausleben konnten das nur die wenigstens. Tristan ist ganz Kind seiner Zeit, er denkt selber, das das, was da in seinem Kopf ist, nicht richtig ist. Trotzdem sind die Neigungen da. Letztendlich führen diese ungelebten Gefühle zu seinem tragischen Handeln. Zu einem in gewisser Weise ungelebten Leben.


    Während im deutschen Titel schon Tristan als Hauptperson herausgehoben wird, weisst der Originaltitel "The Absolutist" auf eine andere wichtige Person des Buches hin: Will. Während des Krieges lassen ihn die Dinge, die er dort erlebt, zum absoluten Verweigerer werden. Denn neben Tristan tragischem persönlichen Schicksal geht es in diesem Buch auch um den Krieg und wie er die Menschen entmenschlicht. Wie bleibt man menschlich unter diesen Umständen? Der rote Faden der Geschichte ist, ob man die Kraft hat, zu seiner persönlichen Überzeugung, seinem Wesen, mag es auch noch so gegen den Zeitgeschmack sein, steht oder ob man lieber mit dem Strom schwimmt. Ist es Stärke, dagegen zu bestehen oder Schwäche? Ist man mutig, dafür in den Tod zu gehen oder ist man mutiger, damit weiterzuleben?. Die Antwort auf diese Frage ist für jeden eine andere.


    Tristan ist so etwas wie ein Antiheld. In den engen moralischen Grenzen seiner Zeit fällt es ihm schwer, sich zu definieren. Seine Sexualität ist seine Triebfeder. Als Soldat funktioniert er recht gut, er stellt sich nicht die gleichen Fragen, die Will sich anfängt zu stellen. Ihn treibt sein innerer Konflikt zu seinem Handeln und er erkennt dabei nicht, das Will ebenfalls an einem inneren Konflikt zerbricht. Bei Tristan herrscht das Gefühl vor der Vernunft und das unterscheidet die beiden so grundlegend, das sie noch nicht einmal fähig sind, auch nur annähernd zu verstehen, was den anderen bewegt.


    Dies ist mein erstes Buch von John Boyne. Seine Art zu schreiben hat mir sehr gefallen. Er ist sehr zart in seinen Beschreibungen und dennoch kann man die Wucht seiner Aussagen dahinter erkennen und fühlen. Zugleich gelingt es ihm fast nebenbei, das Gefühl für diese Zeit, als Krieg noch heroisiert wurde und die Definition, was sich für einen Mann gehört und wie er zu sein hat, sehr eng definiert waren. Mich hat "Das späte Geständnis des Tristan Sadler" sehr berührt. Die Tragik von Tristans und Wills Schicksal wird in mir noch eine Weile nachhallen.

  • Die Liebe in Zeiten des Krieges


    Ich gebe zu: ich war anfangs skeptisch. Denn der Klappentext stellt bei weitem nicht das in den Vordergrund, worum es in diesem Buch wirklich geht. Und noch ein Buch über den Krieg, dachte ich insgeheim; brauchte es das wirklich? Doch dann stieg ich mit dem Erzähler, dem 21jährigen Tristan Sadler, mitten in das Jahr 1919 ein, und merkte, dass mich die gänzlich unverstellte, aber dennoch eingängige Schreibweise schnell in den Bann zog. Sicher, es geht um Dinge, die wohl nur zu Kriegszeiten so hatten passieren können. Aber es geht im Grunde um viel mehr; es geht um die Befindlichkeit eines ganzen Landes, um Stimmungen und Ansichten, die in der Luft lagen. Es geht um die Grundthemen Freundschaft und Liebe. Und vor allem geht es um das Rätsel Tristan Sadler, das sich dem Leser erst langsam erschließt. Warum hasst er den Namen Clayton? Warum hat er keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern? Warum zuckt er so oft zusammen? Warum bleibt er gegenüber penetranten Fragen nach seinem Familienstand so gleichgültig? Und vor allem: warum zittert seine rechte Hand…?


    Alle diese Fragen werden ganz behutsam im Laufe der verschachtelten Erzählung beantwortet. Diese wird verteilt auf zwei Erzählstränge: einen im Jetzt, im Jahre 1919 in Norwich, und einen zur Zeit des Ersten Weltkrieges, im Jahre 1916, vom Ausbildungslager Aldershot bis in die Schützengräben Frankreichs. Zusätzlich gibt es einen Epilog, der 60 Jahre später, im Jahre 1979, stattfindet, und der zwar nicht zwingend notwendig war, aber dennoch der Sache den letzten Schliff verleiht. Ich würde es fast als eine Art „Schnitzeljagd“ bezeichnen, was dem Leser hier geboten wird. Im Jahr 1919 trifft sich Tristan mit der Schwester seines toten Kameraden Will, und tastet sich durch viele mühsame Gespräche bis hin zu dem Punkt, an dem er ihr die Wahrheit über den Tod ihres Bruders mitteilt. Im Jahr 1916 sind wir live und in Farbe dabei, als sich die Beziehung zwischen Tristan und Will langsam entwickelt, verdichtet, verwirrt, und auch wieder löst. Von Kapitel zu Kapitel lüftet sich der Schleier ein wenig, immer wieder ein neues Detail wird dem Leser enthüllt. Zwar ahnt man als Leser schon lange vor der Schwester, wie der Hase gelaufen ist – dennoch ist es erschütternd, wie sich Tristan vor allem sich selbst gegenüber seiner größten seelischen Wunde nähert. „Brokeback Mountain im Ersten Weltkrieg“, so würde ich es nennen.


    Was die Handlung betrifft, braucht man gar nicht weiter ins Detail zu gehen. Das würde sonst schnell im „Zerreden“ enden, und das hat dieses Buch ganz sicher nicht verdient. Ist es doch in allem so überaus zurückhaltend, zart, ja, man könnte aus heutiger Sicht beinahe sagen: verklemmt und naiv. Doch das hat man als Leser insofern ja nicht zu bewerten – hier geht es um die Sezierung einer ganzen Epoche, mitsamt all ihren Vorurteilen und festgefahrenen Ansichten. Und die waren nun mal leider so, wie sie hier dargestellt werden. Die gesamte Atmosphäre kann ich nur als absolut authentisch geschildert beschreiben! Schon allein als Zeitporträt finde ich das Buch grandios gelungen. Wie Männer und Frauen miteinander umgehen – wie viele Väter und Brüder fehlen – die Ansichten über Mut und Männlichkeit – über Sittlichkeit und Anstand – über Beziehungen – über Patriotismus – über den Kampf des Wiederaufbaus – und nicht zuletzt die noch völlig andere Gesetzeslage, die Dinge unter Strafe stellte, über die wir heute nur milde lächeln. Für Tristan und Will jedoch, die auf ihre Art beide „anders“ waren, wurde dieses enge Korsett aus Moralität und Gepflogenheiten zur Katastrophe. Beide mussten letztlich untergehen – denn obwohl Tristan überlebte, ist der größere Teil von ihm damals mit Will gestorben.


    Man gerät nur allzu leicht in die Gefahr, schnell über dieses Buch hinweg zu lesen, doch davor möchte ich ausdrücklich warnen! Die Sprache mag zwar einfach sein, doch - fast wie bei Hemingway – der weitaus größere Teil spielt sich unter der Oberfläche ab. Beinahe müsste man das Buch nach der ersten Lektüre gleich wieder von vorne beginnen – erst dann versteht man viele Details in der Begegnung zwischen Tristan und seiner Umwelt richtig. Vor allem der erste Satz hat mich, erneut gelesen, wirklich umgehauen! Im Nachhinein bekommt er eine gänzlich andere Bedeutung… das fand ich ungeheuer eindrucksvoll. Das Buch ist so scheinbar leicht und einfach zu lesen, doch Vorsicht! Der Anteil der Dialoge am Geschehen ist, zugegeben, immens, doch darf man hierbei nicht die mitschwingenden Emotionen und logischen Anschlüsse aus dem Auge verlieren. Sehr trickreich gemacht ist auch die Tatsache, dass die Abschnitte im „Jetzt“, im Jahre 1919, in der Vergangenheitsform, und die Abschnitte aus dem Jahr 1916 im Präsens (!) erzählt werden. Das hat einen ganz eigenen Effekt, der uns vor allem verdeutlicht, dass für Tristan die Vergangenheit lebendig und die Gegenwart eigentlich unwichtig ist.


    Nein, es ist doch nicht „wieder eines von diesen Kriegsbüchern“. Es ist ein menschliches Drama, eine Spirale aus Liebe, Gewalt, und enttäuschten Hoffnungen. Es ist das niederschmetternde Porträt eines jungen Mannes, der mit seiner „Andersartigkeit“ zu seiner Zeit niemals eine wirkliche Heimat finden konnte. Und der uns mit diesen fiktiven Memoiren ein Dokument hinterlässt, das letzten Endes wirklich keinen ungerührt lassen kann. Ich bin mir nicht gänzlich sicher – aber verdammt nahe am Status eines Klassikers der Weltliteratur ist dieses Buch doch.

  • Ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs reist der ehemalige Soldat Tristan Sadler von London nach Norwich, um Marian Bancroft, der Schwester seines im Krieg umgekommenen Kameraden und Freundes Will, die Briefe zurückzugeben, die sie ihrem Bruder an die Front geschrieben hatte. Schwerer als an den Briefen trägt er an seinen Erinnerungen, ihm liegt etwas auf der Seele und er möchte bei Marian sein Gewissen erleichtern.
    Der Roman ist aus der Sicht des Ich-Erzählers Tristan geschrieben, wechselt aber zeitlich gesehen die Perspektiven. Die Abschnitte aus dem Jahr 1919 spielen in Norwich und berichten in der Vergangenheitsform über das Treffen zwischen Tristan und Marian sowie von seinem Besuch in ihrem und Wills Elternhaus. Zwischen diesen Kapiteln finden sich die Abschnitte, die 1916 im Ausbildungslager Aldershot und in Frankreich an der Front angesiedelt sind. Diese Abschnitte sind im Präsens geschrieben und machen so den Leser direkt zum Zeugen der schrecklichen Ereignisse in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Das letzte Kapitel des Romans spielt im Jahr 1979, als es zwischen Tristan, der inzwischen auf ein langes Leben als erfolgreicher Schriftsteller zurückblickt, und Marian zu einem letzten Treffen kommt.


    Im Mittelpunkt des Romans stehen die Themen "Freundschaft/Liebe", Mut", bzw. "Feigheit" und "Prinzipientreue". Diese Dinge werden sowohl auf der privaten Ebene in der persönlichen Beziehung zwischen den beiden Soldaten Tristan und Will als auch auf der öffentlichen Ebene in der Beziehung des Soldaten zu seinem Vaterland thematisiert. Tristan und Will entwickeln eine Beziehung, die über Freundschaft hinausgeht. Während Tristan sich seine Homosexualität eingesteht und dafür auch schon mit dem Verlust seines Elternhauses bezahlt hat, ist Will zu diesem Schritt nicht bereit. Nicht einmal vor sich selbst will er seine Neigung zugeben, öffentlich machen darf er sie natürlich ohnehin nicht, schließlich stehen gleichgeschlechtliche Beziehungen Anfang des 20.Jahrhunderts noch unter Strafe.
    Doch nicht nur die unterschiedliche Interpretation ihres persönlichen Verhältnisses trübt die Freundschaft der beiden jungen Soldaten, sondern auch ihre unterschiedliche Einstellung zum Krieg. Während Tristan zwar am Krieg keinen Gefallen findet, sondern nur ohne viel nachzudenken seine Pflichten erfüllt, entwickelt sich Will zum Absolutisten (engl.Originaltitel "The absolutist"), der das Menschenverachtende des Krieges immer stärker empfindet und eines Tages nicht mehr bereit ist, in irgendeiner Form - und sei es als Helfer im Lazarett - an diesem Wahnsinn teilzuhaben.
    Es gelingt John Boyne ausgezeichnet, die Situation der Soldaten zu verdeutlichen, die jeden Morgen unsicher sind, ob sie den Abend noch erleben werden, die ihre Kameraden reihenweise fallen sehen und den Befehlen von Vorgesetzten folgen müssen, die an ihrem Platz bleiben, obwohl sie ganz offensichtlich den Verstand verlieren.
    "Das späte Geständnis des Tristan Sadler" ist jedoch kein Kriegsroman im üblichen Sinne, der einen umfassenden Überblick über die Kampfhandlungen in Frankreich bietet, der Fokus liegt hier ganz klar auf moralischen Fragestellungen.
    Ein hervorragender Roman, der mich tief beeindruckt hat! 10 Punkte

  • So eben zu Ende gelesen .


    Dieses Buch werde ich im hohen Alter sicherlich erneut lesen und seine Auswirkungen werden noch ein paar Tage weiter in meiner Seele schwimmen.
    Eine wirklich schöne , mitreißende , von Anfang an traurig stimmende und traurig nahegehende Geschichte, deren Protagonisten man ein anderes Ende von Herzen wünscht.
    Ich empfehle dieses Buch !