Benjamin Stein: Replay
C. H. Beck 2012. 176 Seiten
ISBN-13: 978-3406630057. 17,95€
Verlagstext
Als Ed Rosen in der Morgendämmerung erwacht und mit den Zehen wackelt, steht eines fest: der Huf, der am Fußende aus seinem Bett ragt, ist auf keinen Fall seiner. Aber da. Wie soll er sich das erklären? Rosen, ein Software-Experte, war Mitentwickler und erster Träger des UniCom, eines Kommunikationsmittels, das als Implantat weit mehr kann als ein Smartphone – es protokolliert die Sinneswahrnehmungen seines Besitzers und macht das, was wir Realität nennen, in "Replays" unendlich wiederhol- und veränderbar: vor allem eine erotische Verlockung. Und es macht den Träger total kontrollierbar. Rosens Chef Matana und seine Firma treten einen weltweiten Siegeszug mit diesem Gerät an und nur ein paar ewiggestrige Störenfriede mahnen. Bis sich unerwartet Widerstand gegen das digitale Arkadien regt, der vielleicht auch den Huf erklärt?
Der Autor
Benjamin Stein wurde 1970 in Berlin (Ost) geboren. Seit 1982 veröffentlicht er Lyrik und Kurzprosa. Sein erster Roman „Das Alphabet des Juda Liva“ erschien 1995 und 1998 als Taschenbuch. Benjamin Stein arbeitete als Redakteur und Korrespondent diverser deutscher und amerikanischer Computerzeitschriften und seit 1998 als Unternehmensberater für Informationstechnologie. Er ist Inhaber des Autorenverlags Edition Neue Moderne und betreibt das literarische Weblog „Turmsegler“.
Inhalt
Mit Ed Rosens Fuß stimmte etwas nicht. Es fühlte sich an, als wäre ihm über Nacht ein Huf gewachsen. Ed war abergläubisch, las Horoskope und war auf den Hebräisch-Unterricht zu seiner Bar Mitzwa nur neugierig geworden, als sein Lehrer ihm die Zahlenbedeutung hebräischer Buchstaben angedeutet hatte. Ed kann nur auf einem Auge sehen, sein zweiter Augapfel ist unbeweglich. Ohne räumliches Sehvermögen ist Autofahren nur schwer möglich und der Betroffene gießt sein Bier meistens neben das Bierglas. Als Kind war Ed es gewohnt, von anderen gehänselt zu werden. Er hatte gelernt, seinen Körper zu hassen.
"Im Erinnerungsgarten eines jeden gibt es wohl das eine oder andere schwarze Schaf, das dort vermeintlich friedlich und unbeobachtet grast. Es wächst nicht, aber es wird auch nicht kleiner, und vor allem stirbt es nie. Es grast, und gelegentlich blökt es laut und vernehmlich, damit man es ja nicht vergisst. Das ist die Erinnerung an Augenblicke tiefster Peinlichkeit, Situationen, in denen wir uns einmal befunden haben und wünschten, umgehend im Erdboden zu versinken und nie wieder sichtbar zu werden. Allein die offenbar nie verblassende Erinnerung an jene Momente, die uns wieder und wieder unangekündigt zu überfallen vermag, genügt, die Scham erneut in uns aufsteigen zu lassen. Sie verblasst nicht, die Schuld ebenso wenig, und zu beiden gesellt sich auch noch die unbezwingbare die Angst, dass andere sich ebenso lebhaft wie wir selbst an das Geschehen erinnern und uns jederzeit bloßstellen können." (S. 57/58)
Inzwischen ist der junge Mann Software-Experte in Kaliforniens Silicon Valley und die erste Versuchsperson für ein Implantat im Auge, das UniCom. Das Auswahlverfahren war streng, Ed musste sich innerlich und äußerlich runderneuern und als würdig für den Prototyp erweisen. Nach Fitnesstraining und Muskelaufbau fühlt Ed sich wie eine Statue des Pan. Der springende Punkt wird sein, ob Eds Wahrnehmungsvermögen mit den technischen Möglichkeiten seines neues Auges mithalten kann. Das UniCom-Implantat schärft die Sinne seiner Träger. Sie fühlen damit sich veredelt und so dauert es nicht lange, bis die Neuentwicklung zum Statussymbol wird. Professor Matana, der Entwickler des smarten Teilchens und Eds Chef, will jedoch nicht nur Blinde wieder sehend machen; sein UniCom ersetzt die komplette bisherige IT-Technik. Die Gewaltenteilung zwischen Mobilfunkanbietern und Smartphone-Herstellern ist damit beendet. Das Implantat zeichnet auf, speichert, dient seinem Träger als Ausweis und wird in Eds Fall zum persönlichen Antreiber. Wer kein Implantat trägt, lebt das Leben eines Außenseiters, eines IT-Amish. Ed fühlt sich der Elite zugehörig. Wie 25% der Bevölkerung leben, die ohne UniCom nicht am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen können, interessiert Ed als Entwickler nicht. Solange er davon überzeugt ist, sein persönliches UniCom zu beherrschen und seine eigenen Daten kontrollieren zu können, muss Ed auch nicht wissen, wer die Aktienmehrheit der Herstellerfirma besitzt. Bis die Sache mit Eds Fuß passiert ...
Fazit
In "Replay" denkt Benjamin Stein die schöne neue IT-Welt fort und schafft seinen Figuren die Möglichkeit, Passagen ihres Lebens noch einmal zu erleben. Die schlanke, elegant formulierte Geschichte, die ein Bahnpendler auf Hin- und Rückfahrt per Smartphone konsumieren kann, zeigt wie ein Eisberg nur das obere Achtel von Eds Erfahrungen mit seinem UniCom. Die restlichen Achtel finden im Kopf des Lesers statt und sind der interessantere Teil des utopischen Romans. Matana als Visionär, der die Zufälle geschickt anordnet, macht sich z. B. eigenwillige Gedanken über soziale Netzwerke. Beim Lesen kann man sich nur schwer der Frage entziehen, wer die eigenen Daten erhebt und speichert und von welchem Punkt an uns das interessieren muss. Was ist Realität, was ist Replay?
8 von 10 Punkten