Leserundenvorschlag ab 01. April 2012 "Mord unter den Linden" mit Autor

  • Interessant finde ich, dass die Parteileitung offenbar ihren eigenen Anhängern misstraut. Deshalb unterlässt sie alles, was die Maibewegung zum Erfolg führen könnte. Ihr geht es vor allem darum, gewalttätige Ausschreitungen zu verhindern, den parlamentarischen Erfolg abzusichern und die Führung der Massen in der Hand zu halten. Sie fürchtete, dass ihr eine aufgestachelte Arbeiterbewegung entgleiten und Genugtuung und die Durchsetzung ihrer Rechte im Straßenkampf suchen könnte.

  • Hoffnung auf friedliches Akzeptieren mit Begehen des 1.Mai.
    Damit es eben nicht zu Unruhen oder eine Revolution kommen möge.


    Angst der Arbeiter, daß die "Feinde" alles versuchen werden, daß es eben doch nicht funktionieren kann und sie "recht hatten" mit den alten Verboten.
    Die "obere" Schicht versucht halt alles, um die Sozialisten eben doch noch im Keim zu ersticken.

  • Zitat

    Original von Tim Pieper
    Interessant finde ich, dass die Parteileitung offenbar ihren eigenen Anhängern misstraut. Deshalb unterlässt sie alles, was die Maibewegung zum Erfolg führen könnte. Ihr geht es vor allem darum, gewalttätige Ausschreitungen zu verhindern, den parlamentarischen Erfolg abzusichern und die Führung der Massen in der Hand zu halten. Sie fürchtete, dass ihr eine aufgestachelte Arbeiterbewegung entgleiten und Genugtuung und die Durchsetzung ihrer Rechte im Straßenkampf suchen könnte.


    Was auch nicht ganz unlogisch ist. Im Endeffekt ist die Parteileitung ja auch nichts anderes als die anderen da oben, alles eingebildete Fatzken, die mit uns Arbeitern hier unten nichts zu tun haben wollen. So ungefähr...


    Sorry, mein Internet steigt grad n bissl aus...

    "Leben, lesen - lesen, leben - was ist der Unterschied? (...) Eigentlich doch nur ein kleiner Buchstabe, oder?"


    Walter Moers - Die Stadt der träumenden Bücher

  • Zitat

    Original von Tim Pieper
    Interessant finde ich, dass die Parteileitung offenbar ihren eigenen Anhängern misstraut. Deshalb unterlässt sie alles, was die Maibewegung zum Erfolg führen könnte. Ihr geht es vor allem darum, gewalttätige Ausschreitungen zu verhindern, den parlamentarischen Erfolg abzusichern und die Führung der Massen in der Hand zu halten. Sie fürchtete, dass ihr eine aufgestachelte Arbeiterbewegung entgleiten und Genugtuung und die Durchsetzung ihrer Rechte im Straßenkampf suchen könnte.


    Ich bin mir nicht sicher, ob man wirklich von "Misstrauen" sprechen sollte - könnte es nicht auch die Erkenntnis sein, dass schulisch weniger gebildete Arbeiter eher versuchen, Ihre Rechte mit körperlicher Aktivität statt mit Verhandlungen durchzusetzen? Einfach aufgrund der fehlenden Möglichkeit, sich anders auszudrücken?

  • Jetzt nochmal zu den Gegnern der Arbeiterbewegung:


    In das allgemeine Klima von Unsicherheit, Misstrauen und Revolutionsfurcht passt auch der Geheimerlass des Ministeriums des Inneren vom 18. Juli 1890. Man muss sich vor dem Lesen noch mal ins Gedächtnis rufen, dass gerade erst beschlossen worden war, die Wirksamkeit des Sozialistengesetzes auslaufen zu lassen. Trotzdem heißt es in dem Geheimerlass völlig ungeschminkt:


    „Im Hinblick darauf, dass das Sozialistengesetz am 1. Oktober seine Wirkung verliert, mache ich Euer Hochwohlgeboren ergebenst darauf aufmerksam, die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie demnächst mit Rücksicht auf die veränderte Rechtslage besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, den sozialdemokratischen Ausschreitungen mit Entschiedenheit entgegenzutreten und zu diesem Zwecke von den zu Gebote stehenden Mittel unter sorgfältiger Einhaltung der gesetzlichen Schranken, innerhalb derselben aber bis zur Grenze des Zulässigen, Gebrauch zu machen. Insbesondere wird dies auf dem Gebiete des Versammlungs- und Vereinswesens sowie der Presse erforderlich sein. Zu diesem Behufe wird es der unausgesetzten Aufmerksamkeit der Überwachungsorgane bedürfen, um in den gehaltenen Reden diejenigen Stellen herauszufinden, welche den Tatbestand einer im Strafgesetzbuch mit Strafe bedrohten Äußerung wahrscheinlicherweise begründen, und sich der wortgetreuen schriftlichen Aufnahmen solcher Redeteile zum Anhalte für die sofort zu beantragende gerichtliche Verfolgung zu unterziehen …“


    Was lest ihr aus dem Geheimerlass heraus?

  • Zitat

    Original von LeseBär
    könnte es nicht auch die Erkenntnis sein, dass schulisch weniger gebildete Arbeiter eher versuchen, Ihre Rechte mit körperlicher Aktivität statt mit Verhandlungen durchzusetzen? Einfach aufgrund der fehlenden Möglichkeit, sich anders auszudrücken?


    Ich denke schon, daß das auch ein Rolle gespielt haben könnte.
    Vor allem in Massen sind Menschen ja unberechenbar.


    Siehe französische Revolution, da waren die aufgestachelten Massen ja nicht mehr zu halten.
    Leider einige Jahrzehnte später ja auch nicht mehr.


    Ein typisches menschliches Phänomen, daß sich Massen leicht verselbständigen können.
    Wenn die Arbeiterführer sich dessen bewußt waren, wie leicht eine Masse an Menschen aus dem Ruder geraten kann, kein Wunder, daß ein gewisses Mißtrauen oder eher ein Sorge vorherschte.

  • Zitat

    Original von Tim Pieper
    „Im Hinblick darauf, dass das Sozialistengesetz am 1. Oktober seine Wirkung verliert, mache ich Euer Hochwohlgeboren ergebenst darauf aufmerksam, die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie demnächst mit Rücksicht auf die veränderte Rechtslage besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, den sozialdemokratischen Ausschreitungen mit Entschiedenheit entgegenzutreten und zu diesem Zwecke von den zu Gebote stehenden Mittel unter sorgfältiger Einhaltung der gesetzlichen Schranken, innerhalb derselben aber bis zur Grenze des Zulässigen, Gebrauch zu machen. Insbesondere wird dies auf dem Gebiete des Versammlungs- und Vereinswesens sowie der Presse erforderlich sein. Zu diesem Behufe wird es der unausgesetzten Aufmerksamkeit der Überwachungsorgane bedürfen, um in den gehaltenen Reden diejenigen Stellen herauszufinden, welche den Tatbestand einer im Strafgesetzbuch mit Strafe bedrohten Äußerung wahrscheinlicherweise begründen, und sich der wortgetreuen schriftlichen Aufnahmen solcher Redeteile zum Anhalte für die sofort zu beantragende gerichtliche Verfolgung zu unterziehen …“


    Nett...
    Wir drehen den Sozialisten, Anarchisten, wem auch immer die Worte so im Munde herum, dass das Gesagte eine Straftat ist. Außerdem sorgen wir innerhalb unserer bestehenden Gesetze dafür, dass sich Sozialisten, Anarchisten, na das gemeine Volk eben nur erschwert versammeln und Pressefreiheit genießen darf.
    Das ist mal eine Beschäftigungstherapie, darauf zu warten, dass jemand mal etwas Falsches sagt oder tut, damit man etwas in der Hand hat gegen diesen und alle Arbeiter... Die Herren Monarchen sind ein wenig ängstlich, was?

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    Walter Moers - Die Stadt der träumenden Bücher

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  • Zitat

    Original von Tim Pieper
    Was lest ihr aus dem Geheimerlass heraus?


    Die Bourgeoisie begibt sich sozusagen in "Hab-Acht-Stellung", weil sie mit Ausschreitungen rechnet. Jede noch so kleine Ausschreitung soll im Keim erstickt werden, jeder Vorfall sofort geahndet werden. Dabei sollen zwar die gesetzlichen Rahmenbedingungen eingehalten, der Strafspielraum aber voll ausgeschöpft werden. Die Überwachung durch den Staat wird mit der Aufhebung des Sozialistengesetzes nicht aufgehoben, sondern eher verschärft, damit jedem Verdacht auf eine strafbare Äußerung nachgegangen werden kann.

  • Zitat

    Original von Tim Pieper


    Was lest ihr aus dem Geheimerlass heraus?



    Der Versuch, die "gefährlichen" Sozialdemokraten bloß unter Aufsicht zu haben und ihnen nachzuspionieren, damit jedes Aufkeimen von Problemen sofort im Keime erstickt werden kann. ( Was eben die "Oberen" vom Problemen ansahen)


    Sozusagen der Vorläufer der Staasi Methoden oder des Überwachungsstaates in Bezug auf die Sozis.

  • LeseBär , kissy  
    Das habt ihr beide ziemlich gut erfasst.


    Ich wollte euch durch die Auswahl der Zitate verdeutlichen, dass - obwohl die Abschaffung des Sozialistengesetzes beschlossene Sache war - die Fronten zwischen den politischen Lagern nach wie vor verhärtet waren. Es herrschte also ein politisches Klima großer Verunsicherung. Im Roman versucht unser Täter nun, diese Konstellation für seine persönlichen Zwecke auszunutzen. Allerdings können wir darauf nicht näher eingehen, ohne zuviel von der Handlung zu verraten. ;-)

  • Zitat

    Original von Tim Pieper
    LeseBär , kissy  
    Das habt ihr beide ziemlich gut erfasst.


    Ich wollte euch durch die Auswahl der Zitate verdeutlichen, dass - obwohl die Abschaffung des Sozialistengesetzes beschlossene Sache war - die Fronten zwischen den politischen Lagern nach wie vor verhärtet waren. Es herrschte also ein politisches Klima großer Verunsicherung. Im Roman versucht unser Täter nun, diese Konstellation für seine persönlichen Zwecke auszunutzen. Allerdings können wir darauf nicht näher eingehen, ohne zuviel von der Handlung zu verraten. ;-)


    Also ich muss sagen, mit diesem Hintergrund verstehe ich das Handeln des Täters nun viel besser...

    Aktuelle Lektüre: Mord im Stadtpalais - Beate Maly
    SUB: 100

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