Ich könnte das nicht. Mein Jahr im Hospiz - Florentine Degen

  • Ich könnte das nicht. Mein Jahr im Hospiz - Florentine Degen


    Florentine Degen ist neunzehn, hat das Abitur hinter sich und ihr Freiwilliges Soziales Jahr vor sich. Sie hat sich als Arbeitsplatz ein Hospiz ausgesucht, einen Ort, an den die Menschen zum Sterben kommen. Florentine führt Tagebuch über ihre Zeit ganz nahe am Tod.


    Eigentlich mag ich keine Erfahrungsberichte, weil sie letztlich zu individuell sind oder zu sensationslüstern, zu publikumsbestimmt, zu oberflächlich, zu undurchdacht und oft alles zusammen. Degens Buch entpuppte sich als die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
    Wir folgen ihr nicht nur durch die Zimmer des Hospizes, sondern auf eine innere Reise, die einer inneren Entwicklung im Lauf des Jahrs entspricht. Degen nimmt auf und denkt mit, stellt Fragen an sich und andere, sie fühlt, leidet, tappt oft im Dunkeln - wer tut das nicht beim Thema Tod - macht Fehler, macht das Richtige. Sie berichtet mit einer sympathischen Mischung aus Mitgefühl und Distanz. Unterbrochen sind die Tagebucheintragungen immer wieder von Gedanken zu bestimmten Themen, Ekel, Weinen, Mitleid oder einem atemberaubenden Selbstexperiment.


    Wie teilen ihre Erfahrungen im Umgang mit den unterschiedlichsten Menschen, die auch angesichts des kurz bevorstehenden Todes alles andere als gleich sind. Sie schildert die schiere Brutalität, die das Ausgeliefertsein an den blanken Ablauf körperlicher Funktionen mit sich bringt. Was ist der Mensch, was bleibt kurz vor dem Ende über den Inhalt von Windeln hinaus? Was heißt Sterben?
    Degen beobachtet sehr genau, im Guten, wie im Schlechten, sich, die PatientInnen, Angehörige, aber auch das Pflegepersonal. Die überforderten, weil zahlenmäßig wenigen Festangestellten, die mehr oder weniger engagierten Ehrenamtlichen, die mehr oder weniger interessierten FSJlerInnen. Vieles wird nur angerissen, sind nur erste Gedanken, eben einer sehr jungen Frau mit geringer Lebenserfahrung. Allein eine solche Sicht auf die Dinge ist schon hochspannend.


    Die Autorin analysiert auch, probiert, testet, will verstehen wie man sich fühlt in dieser Situation kurz vor dem Sterben. Sie vermittelt sehr anregende Einsichten über das Verhalten alter und kranker Menschen, über Pflegepersonal, über die Belastung in diesem Bereich überhaupt. Vor allem stellt sie viele Fragen, noch in ihren besten eigenen Antworten spürt man Fragezeichen über Sterben und Tod ebenso, wie darüber, wie das in einer hochtechnisierten Gesellschaft gelöst ist. Unbefriedigend, nach wie vor.


    Unbefriedigend scheint auch die Betreuung der FSJlerInnen zu sein, jedenfalls im vorliegenden Fall, wenn es um schwerere psychische Belastungen im gewählten Beschäftigungsbereich geht. Zieht man Überspitzungen und leichtere Dramatisierungen ab - die Autorin ist jung und will überdies Schriftstellerin werden - bleiben doch ein paar kleine Zweifel an manchen Organisationsformen des FSJ zurück.


    Sehr informatives kleines Buch nicht allein über Hospize und Fragen des Sterbens in unserer Gesellschaft, sondern auch ein Einblick in Überlegungen sehr junger Menschen, die sich für ein FSJ entscheiden.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Ist es. Aber allzu zart besaitet sollte man nicht sein, wenn man es liest. Es gibt heftige Situationen. Und selbst wenn man sich häufiger mit Sterben und Tod auseinandersetzt, findet man bei Degen noch den oder anderen unerwarteten Aspekt.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Hm, ich stehe solchen Büchern immer recht zwiegespalten gegenüber... Gerade Sterben und Tod ist in unserem Job leider so alltäglich geworden, ich glaube da mag ich in meiner Freizeit nichts mehr darüber lesen. Wobei die Thematik Hospiz sicher eine lesenswerte ist.
    Für Menschen, die sich einen Einblick verschaffen wollen, sicherlich empfehlenswert! Ich bin gespannt auf weitere Rezis.

  • nofret78


    die eigentliche Spannung des Buchs beruhte für mich darauf, daß es zwar um Sterben und Tod geht, aber aus der Perspektive einer sehr jungen Frau berichtet wird, die sozusagen am Anfang stehend frontal mit dem Umstand des unabänderlichen Endes zusammenstößt. Dazu kommt, daß sie nicht als Berufsanfängerin schreibt. Sie hat beruflich ganz andere Pläne, zu denen sie nach Abschluß des FSJ auch übergeht.
    Es ist ein Blick von außen auf etwas, das uns innerlich angeht, psychisch, wie rational. Am Anfang ist der Blick ganz unbefangen, verengt sich dann und wandert in die Tiefe. Ich gehe davon aus, daß Frau Degen vieles aus dieser Erfahrung mitgenommen hat. Ihre sich ändernden Gefühle teilen sich beim Lesen auch mit.


    Wenn man beruflich, selbst im weitesten Sinne, mit Kranken, Schwerstkranken oder Pflegebedürftigen zu tun hat, ist das sicher etwas anderes. Allerdings könnte eben dann der 'naive' Blick ganz interessant sein (jetzt mal abgesehen davon, daß Angehörige gegenüber Pflegepersonal im ganz normalen Krankenhausalltag sowieso schon schrecklich dämliches Zeug von sich geben können :grin).



    Ich bin aber auch auf weitere Meinungen zu dem Büchlein gespannt.





    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Meine Rezension


    Hospize haben es sich zu ihrer Aufgabe gemacht, das Sterben so „angenehm“ wie nur möglich zu machen. Im Krankenhaus ist man nur ein Patient von vielen und gerade Sterbende und ihre Pflege beanspruchen im stressigen Krankenhausalltag sehr viel Zeit. Zeit, die Schwerstkranke mit Aussicht auf Leben vielleicht dringender benötigen? Eine Gratwanderung…


    Um sterbenden Menschen die Chance auf einen menschlichen Tod zu geben, wurden Hospize gegründet, die nur eine sehr kleine Anzahl an Gästen aufnehmen, um eine individuelle Betreuung gewährleisten zu können. Wer in ein Hospiz geht, hat mit dem Leben abgeschlossen, denn die Gäste verlassen es nicht mehr lebend. Menschen kurz vor ihrem Tod zu umsorgen und zu pflegen, das ist physisch und psychisch anstrengend.


    „Ich könnte das nicht“ ist die spontane Reaktion all derer, denen Florentine von ihrem Plan erzählt, ein freiwilliges soziales Jahr in einem Hospiz abzuleisten. Wer – und gerade als sehr junger Mensch - möchte das schon freiwillig, sich mit alten oder schwerstkranken Menschen abzugeben, die kurz vor ihrem Tod stehen? Florentine ist bereit, sich darauf einzulassen und schreibt in ihrem Tagebuch über ihr Jahr im Hospiz. Sie lernt dort Menschen kennen, deren Verlust sie beweint und Menschen, die sie als anstrengend und auch nervig findet. Der Tod ist in diesem Jahr ihr ständiger Begleiter.


    Ich fand Florentines Erzählungen sehr interessant, doch ich fand sie „hinter den Kulissen“ auch ein wenig desillusionierend – auch wenn Sterben in einem Hospiz sicher trotz allem ein würdigerer Tod ist als der in den meisten Krankenhäusern. Was mich bei all dem doch ein wenig überrascht hat war, wie wenig mich das Buch berührt hat.


    Das mag allerdings auch daran liegen, daß ich Florentines Bericht trotz aller Emotionen immer ein wenig distanziert empfand - „ich bin ja keine von euch, ich bin ja nur im FSJ“. Dieses Gefühl geben ihr die Festangestellten aber manchmal durchaus auch – auf der einen Seite muß Florentine anpacken wie eine echte Kraft und bleibt vor keiner Tätigkeit verschont, auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, sie wird wegen ihrer gelebten Emotionen nicht ernst genommen. Bzw. Emotionen werden gar nicht gerne gesehen, da sie auf Dauer zu belastend sind. Die Angestellten bemühen sich, möglichst eine Distanz zwischen sich und ihren Gästen zu lassen, damit ihr Tod sie nicht zu sehr belastet. In einem Beruf, in dem der Tod täglicher Begleiter ist, vermutlich reiner Selbstschutz.


    Nichtsdestotrotz fand ich den Einblick in den Alltag eines Hospizes sehr interessant.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)