OT: Sumar sögur 1997
übers. von Karl-Ludwig Wetzig
Jener Sommer in Island ist ein Kurzroman aus zwölf kleinen Erzählungen über Menschen einer kleiner Gemeinde im abgelegenen Nordwesten Islands. Weder der Ort noch die umgebenden Berge oder der Fjord haben einen spezifischen Namen, Gunnarsdóttir gibt ihnen Namen nach geographischen Gegebenheiten oder bestimmten Traditionen, die auch auf andere Regionen übertragbar sind. Für die auftretenden Personen jedoch sind die Landschaftsnamen eindeutig und auf ihre Welt bezogen. Ähnlich verfährt sie mit ihren Figuren. Den Leserinnen und Lesern meist einfach als ‚die Frau’, ‚der Mann’, ‚der Junge’ oder ‚die Dichterin’ präsentiert, bekommen sie ihre Eigennamen, wenn überhaupt, erst im Gespräch mit anderen Figuren. Es ist Aufgabe der LeserInnen, Namen und Personen zuzuordnen, wie auch die Orte, die Höfe, Weiden, das kleine Dorf, in dem sich die jeweils erzählte Geschichte abspielt.
Das schafft von Anfang an große Distanz zwischen den Figuren und den LeserInnen, zugleich kann man sich der Faszination, die die bewußt geschaffene Fremdheit ausübt, kaum entziehen. Das Spannungsverhältnis zwischen Zuneigung und Abneigung sowohl gegenüber der Landschaft, die sich durchaus als menschenfeindlich herausstellen kann, als auch gegenüber Nachbarinnen, Freunden und Bekannten, die ebenso unmenschlich sein können, kennzeichnet grundsätzlich auch alle auftretenden Personen.
Die Geschichten stehen zunächst jede für sich, allmählich erst erschließt sich der Zusammenhang, wer mit wem verwandt ist, bekannt oder befreundet, wer wen liebt, wer wen haßt. Auch was im Dorf geschehen ist, versteht man erst, wenn man eine Handvoll der Geschichten gelesen hat. Es gibt immer wieder Überraschungen, die Autorin spielt mit den Erwartungen der LeserInnen, etwa, wenn ein Konflikt zum Höhepunkt getrieben scheint und sich unvermutet friedlich löst. Es gibt Trauriges und Böses. Leider sind genau im letzteren Bereich die dazugehörigen Geschichten zu konventionell geraten. Mißbrauch, gewalttätige Eltern und als Resultat brutale Teenager sind ein Elend, dem man durch neuerliche Wiederholungen kaum noch etwas abgewinnen kann. Das ist auch deswegen schade, weil die Idee eines solchen Erzählungszyklusses und die Art, wie sie ausgeführt ist, so gelungen sind. Im einen oder anderen Fall helfen auch die Differenzierungen in der Charakterschilderung, die dann in einer anderen Geschichte folgen, nicht viel, das Angebotene bleibt flach.
Neben der Frage nach Menschen und ihrem Handeln geht es immer wieder um das Erzählen selbst. Es ist bei einem so genau konstruierten Roman kein Zufall, daß ‚die Dichterin’ Hildur Snorradóttir heißt, die Enkelin ihrer Freundin heimlich Geschichten über die Menschen des Dorfs schreibt und taubstumm ist.
Die Sprache ist karg, bringt aber erstaunlich kräftige Bilder hervor, die im Gedächtnis bleiben. Eigentlich wird alles gesagt, trotzdem bleibt ein Quentchen Geheimnis, so wie der Grund für die Zuneigung, die die Figuren ihrer Heimat trotz der feindlichen Umstände entgegenbringen, letztlich ein Geheimnis bleibt.
Da die Bedeutung der Ortsbezeichnungen zum Verständnis der Figuren immer wieder wichtig werden, gibt es im Anhang ein Glossar, in dem die isländischen Namen ins Deutsche übersetzt werden. Wie sinnvoll das ist, kann ich immer noch nicht entscheiden.
Eigentümlich, aber ein sehr faszinierendes Leseerlebnis, das nachwirkt.