OT: SPrako tranbá 2001
aus dem Spanischen übers. von Karl A. Klewer
Lucas ist Ende achtzig, ein wenig dement. Die Vergangenheit ist ihm näher als die Gegenwart, trotzdem gerät ihm auch darin manches durcheinander, er vergißt zum Beispiel immer wieder, daß Rosa, seine Frau, schon seit siebzehn Jahren tot ist. Sein bester Freund ist Don Rodrigo, eine Motte. Lucas mag Motten, sie sind vernünftig, in allem was sie sagen, und haben eine einsichtige Lebensweise. Bei seinen längst toten Freunden war das schwieriger. Lucas zieht gern Vergleiche zwischen jetzt und früher, hier und dort. ‚Dort’ ist Nepal und in Nepal die höchsten Gipfel. Lucas’ wahre Leidenschaft sind die Achttausender. Er kennt jede Expedition dorthin, die es je gegeben hat, die Namen der Teilnehmer, den Verlauf des Aufstiegs und Abstiegs, wer scheiterte, wie und warum. Seine liebste Lektüre sind Zeitschriften übers Bergsteigen. Wenn er den Namen eines wichtigen Gipfels nennen soll, irrt er sich nicht.
Betreut wird Lucas von seiner etwas jüngeren Schwester María. Sie kennt seine Leidenschaft. Wenn die beiden Treppen stiegen müssen, werden die einzelnen Stockwerke zu ‚Basislager’, ‚Lager eins’ oder ‚zwei’, wird die Luft knapp, reden sie über Sauerstofflaschen und Ausrüstung. Marías Träume allerdings sind anderer Art, sie versucht einen Roman zu schreiben. Darin fließt manches aus ihrem Leben ein, auch wenn sie viel erfindet. Sie gestaltet ihr Leben ebenso phantasievoll, wie ihr Bruder.
Als die zwei überraschend Marcos vorfinden, der sich uneingeladen einige Wochen, während Lucas im Krankenhaus war, in dessen Wohnung einquartiert hatte, stört sie das nicht besonders. Marcos kann dableiben. Don Rodrigo hat auch nichts dagegen und Marco nichts gegen Don Rodrigo. Im Gegenteil stellt sich heraus, daß sie alle ausgezeichnet zueinander passen. Marco ist Straßenmusiker, wenig ehrgeizig und am Alltag kaum interessiert. Das ändert sich mit seinem Einzug, nicht nur, weil er bald Roma kennenlernt und die beiden sich verlieben.
Elorriagas Geschichte setzt sich aus Momentaufnahmen aus dem Leben der drei und schließlich vier Personen zusammen. Mal spricht die eine, mal der andere, wenn auch Lucas den meisten Raum einnimmt. Alle vier ändern sich, bewegen sich aufeinander zu, profitieren vom Leben der anderen. Lucas, 1914 geboren, ist geprägt durch die Jahre der Franco-Diktatur und steht zugleich überhaupt für das nationale Trauma, das Spanien bis heute mit sich herumträgt. María war immer die fürsorgliche Schwester und brave Tochter einer dominante Mutter, die aber gerne etwas Besonderes erlebt hätte.
Marcos, Ende zwanzig, ist ziellos, er begreift erst langsam, daß man dem Leben mehr abgewinnen kann, wenn man es gestaltet und nicht nur fließen läßt. Roma ist genau das Gegenteil, sie erfährt, daß herumträumen auch wichtig ist.
Lebensgeschichten, Lebensansichten und Lebensweise der Figuren muß man beim Lesen Stück für Stück zusammensetzen. Elorriaga findet überraschende Vergleiche und Bilder für Gefühle, wie für Ereignisse. Das Bild der höchsten Gipfel der Welt, der dünnen Luft und des Himmels über Nepal ist Handlungselement und Metapher zugleich. Die Welt, die seine Figuren sehen, ist vertraut und trotzdem neu. Da sein Roman ein Debütroman ist, handelt er selbstverständlich auch vom Schreiben und Gestalten. Das ist nicht uninteressant, aber bei NeuautorInnen schon fast ein Reflex. Die Überraschung für die LeserInnen wäre inzwischen eher der Verzicht auf das Thema.
Wunderbar gelungen dagegen ist das Zusammenspiel der Figuren, nicht nur der lebenden, auch die toten haben ihre Auftritte. Es ist ein sanftes Buch über die körperlichen und geistigen Schwierigkeiten im höheren Alter und das langsame Sterben. Der Verlag wirbt mit dem Wort ‚charmant’, das ist der falsche Begriff. Elorriaga schönt nicht, die Geschichte schmeichelt sich nicht ein. Sie verzaubert nicht durch Verlockung, sondern durch die klaren Fingerzeige darauf, was im Leben wichtig ist. Zuneigung, Vertrauen, Liebe ohne Hintergedanken und viel, viel Phantasie.