Nachtleben - Mirco Buchwitz

  • KLAPPENTEXT:
    Richard wächst im Kinderheim auf. Erst mach über fünfundzwanzig Jahren meldet sich seine Schwester:“Willst du Mama noch mal sehen?“ Gemeinsam brechen sie auf, und Richard berichtet, wie es ihm ergangen ist. Er erzählt von der Eruieherin Merle und seiner Geliebten Pia, von Flavio, seinem besten Freund, von Prügeleien und von seinem Versuch, eine Familie zu finden. Der Leser wird zum Mitwisser seiner Lebenslügen, zum Komplizen seines Versteckspiels. Er begleitet Richard auf der Suche nach dem Ursprung seiner Einsamkeit.


    ZUM AUTOR:
    Mirco Buchwitz, wurde 1974 geboren und lebt in Hannover. Er produzierte eine Mischung aus Kurzprosa, Kabarett, Spoken Word und Musik, seine Texte wurden in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht, seine Hörspiele liefen im Radio. Er trat im Quatsch Comedy Club auf, im Orpheum und in der Lach- und Schießgesellschaft und gewann unter anderem den Kabarett Kaktus.


    EIGENE MEINUNG:
    „Nachtleben“ hat sehr viele Emotionen in mir geweckt. Es hat mich berührt, gefesselt, provoziert, zum Weinen, zum Lachen und zum Staunen gebracht und vor allem hat es mich maßlos begeistert. Autor Mirco Buchwitz hat eine Geschichte kreiert, die so oder so ähnlich in der wahren Welt leider viel zu häufig vorkommt und dennoch einzigartig ist, denn es ist die Geschichte zweier Geschwister, deren Leben aus Lug und Trug besteht, die Dinge erlebt haben, die man eigentlich, und schon gar nicht als Kind, erleben sollte.
    Schon vom ersten Kapitel an, das im Jahr 1980 spielt – Richard ist zu dem Zeitpunkt 9, seine Schwester einige Jahre jünger – wird der Leser ins kalte Wasser geschmissen, denn Mirco Buchwitz ist schonungslos und versucht nichts zu beschönigen. Richard und Ingrid leben zu diesem Zeitpunkt noch bei ihrer Mutter, die ihr Leben mit Alkohol und Drogen zu Grunde richtet und von einem Mann abhängig ist, der weder mit ihr noch mit den Kindern immer liebevoll umgeht. Schon im ersten Kapitel flossen bei mir die ersten Tränen und dennoch konnte ich mich nicht von der Geschichte abwenden, gefangen von dem Sog, was wohl aus Ingrid und Richard werden würde.
    Richard kommt ins Heim, keine einfache Zeit für einen Jungen, der sich wie ein geprügelter Hund verhält: gern unbemerkt, keine Aufmerksamkeit auf sich lenkend, aber stets zur Verteidigung bereit, falls es zum Angriff kommt. Und das kommt es. Mehr als einmal in seinem Leben und so ziehen sich Angriff und Verteidigung wie ein roter Faden durch sein Leben.
    Ingrid kommt in eine Pflegefamilie, in der es ihr zwar gesundheitlich gut, emotional aber eher schlecht geht. Welches Kind übersteht schon unbeschadet die Trennung von seiner Familie …
    Dies alles erfahren wir nach und nach bzw. setzen sich die einzelnen Kapitel, die in unterschiedlichen Jahrzehnten spielen wie Bausteine zusammen. Die Bausteine eines verkorksten Lebens. Wer das Fundament für dieses Leben schuf, wie dies immer wieder dazu kam in kleinen Stücken abzubröckeln und wo das hinführt erfahren wir nach und nach. Immer mehr Verhaltensweisen Richards werden ersichtlich, wenn wir lesen, was ihm wieder fahren ist. Dabei geht der Autor sehr geschickt vor, denn meist ist es so, dass wir von einem Ereignis lesen und im Kapitel darauf, von einem vorangegangenen Ereignis, das erklärt warum Richard so handelt, wie er nun einmal handelt.
    Für mich war das Buch besonders spannend, da ich in meinem Studium der Sozialpädagogik genau solche Verhaltensweisen durch genommen habe. Wie reagiert ein Mensch auf negative Erlebnisse in seiner Kindheit? Viele von Richards Handlungen konnte ich dadurch eher nachvollziehen, verstehen nicht immer. Bei ihm ist es vor allem die Beziehungen, die gestört sind. Dadurch, dass er hauptsächlich negative Erlebnisse mit seiner Mutter hatte, ist es ihm nicht möglich jemanden wirklich an sich heran zu lassen. Er versucht es, hat dann wieder negative Erfahrungen und kann sich irgendwann nicht mehr für positives öffnen. Ein Teufelskreis, aus dem er nicht entkommen kann.
    Dieses Buch ist aber auch für Leser spannend, die keine pädagogischen oder psychologischen Vorkenntnisse haben, denn in erster Linie ist es wirklich sehr toll, weil es so stark berührt. Trotzdem bleibt der Autor auf dem Teppich. Die Erlebnisse des Protagonisten sind bis zum Ende hin sehr authentisch, wirken nicht gestellt und werden auch nicht kitschig oder übertrieben dargestellt. Richard handelt, wie er es nun einmal gelernt hat und so manches Mal hätte ich gerne an ihm gerüttelt und gesagt: „Ey, mach das doch nicht schon wieder!! So wird das nie was!!“ Vor allem was seine Lügerei angeht, war es mir ein Graus, wie er sich immer und immer mehr darin verstrickte. Und wie sollte es anders sein ist sein Leben, wie das seiner Mutter gekennzeichnet von Drogen und Alkoholexzessen. Auf seiner Reise mit Ingrid in die Schweiz, wo sie von der Mutter Abschied nehmen wollen, rollen die beiden alles Alte noch einmal auf und versuchen ihr Leben so gut es geht zu verarbeiten. Eine spannende Reise, auf der sie versuchen sich selbst zu finden.
    Sprachlich ist Mirco Buchwitz grandios. Er schreibt so wunderbar, facettenreich und erschafft eine Atmosphäre, in der man die Luft schneiden kann. Ich bin eigentlich eine schnelle Leserin, hab aber für die wenigen Seiten relativ lang gebraucht, da ich so genau gelesen habe, aus Angst irgendwas zu verpassen. Ich habe Seite um Seite verschlungen, weil ich wissen wollte wie es weiter geht, immer mit der Angst im Nacken, dass mit es mit jeder Seite auch auf das Ende der Geschichte zu geht.


    FAZIT:
    Ein großartiges Buch über ein verkorkstes Leben und seine Hintergründe, über Lügen und Wahrheiten und Lügen,die manchmal besser sind als die Wahrheit, über Freundschaft, Familie und Beziehungen. Ein Buch, das fesselt, begeistert und sehr bewegt.