Der Klappentext verrät zum Inhalt:
Noch bevor der 2. Weltkrieg begann, hatte Hitlers zeitweiliger Partner und späterer Gegner Stalin bereits Millionen von Menschen umgebracht – und setzte dieses Morden während des Krieges fort. Bevor Hitler besiegt war, hatte er sechs Millionen Juden ermorden lassen – und ließ Millionen andere Menschen gezielt verhungern. All dies geschah auf einem einzigen Gebiet: den Bloodlands zwischen Russland und Deutschland. Doch als der 2. Weltkrieg zu Ende war, verschwand die Erinnerung an diesen millionenfachen Mord in der Dunkelheit hinter dem Eisernen Vorhang. Nicht nur unser Bild vom Holocaust erweist sich jedoch mit dem Blick auf die Bloodlands als unvollständig und westlich verzerrt. Auch die Geschichte Europas gewinnt ein verlorenes Terrain im Osten zurück: die gemeinsame Erinnerung an 14 Millionen Tote und die größte Tragödie der modernen Geschichte.
Zum Autor verrät der Klappentext:
Timothy Snyder ist Professor für Geschichte an der Yale University und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen.
Übersetzt wurde der Band von Martin Richter.
Meine Meinung:
Zunächst zur Ausstattung: Wie vom C.H.Beck-Verlag gewohnt eine sehr sorgfältige Aufmachung, ein sehr ansprechender Druck mit erfreulich breitem Rand für Notizen oder Anstreichungen.
Der Index verzeichnet ein Vorwort, eine Einleitung, elf Kapitel, einen Schluss sowie einen umfangreichen Anhang, der mit einer Zusammenfassung beginnt, über Zahlen und Begriffe zur Danksagung sowie Anmerkungen, einer ausführlichen Bibliographie und einem ebenso ausführlichen Register führt.
In den Text integriert sind 36 Karten, die die jeweilige zeitliche Situation berücksichtigen.
Dankenswerterweise gibt es ein Lesebändchen.
Und ebenso dankenswerterweise werden dem Leser Fotos erspart.
Mit einiger Berechtigung kann ich sagen, dass ich noch nie ein Buch gelesen habe, das mich mehr aufgewühlt, bis ins Mark erschüttert und verstört hat. Es war mir nicht möglich, diesen Band durchzulesen, ohne nach wenigen Seiten innezuhalten, wieder meine Sinne zu sammeln und ja, so muss ich es wohl sagen, auch Mut zu fassen, um weiter zu lesen. Und das hat nichts damit zu tun, dass das Buch so schlecht wäre, ganz im Gegenteil, es ist der Inhalt, der jegliche Ruhe aufscheuchte: 14 Millionen Menschen starben auf erbärmliche und erbärmlichste Art und Weise, weil nach dem Willen von Hitler und Stalin die Welt, die Menschheit nach ihren Ideologien gestaltet werden sollten, weil sie eben dieser Welt und eben dieser Menschheit ihren Stempel aufdrückten ohne einen Hauch von Menschlichkeit und ohne jegliches Mitgefühl, weil sie der anmaßenden Meinung waren, über das Lebensrecht der Menschen nicht nur bestimmen zu können, sondern dies auch taten.
„Mit wenigen Ausnahmen handelt dieses Buch eher vom Sterben als vom Leiden.“
(Seite 418)
Die im zitierten Klappentext und im vorigen Absatz erwähnte ungeheuerliche Zahl von 14 Millionen Menschen sind laut Autor „keine Kriegsopfer“ (Seite 10), sondern „Opfer einer sowjetischen oder nationalsozialistischen Mordpolitik“ (Seite 12); von ihnen „war aber kein einziger aktiver Soldat“ (Seite 10). Die Untersuchung Snyders konzentriert sich auf die Zivilisten, die Bauern, die Eliten, die Juden, all jene, die nicht genehm waren, auch wenn sie sich anzupassen versuchten und nur ihr eigenes kleines Leben zu leben suchten, denen dieses Recht auf Leben abgesprochen wurde. Sie mussten verhungern, wurden erschossen und vergast. Er reiht nicht einfach Zahlen an Zahlen, sondern gibt die jeweilige politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation dazu wieder, fügt Erklärungen an. Snyder schlüsselt sehr genau und detailliert auf, wann wer von wem ermordet wurde: Seien es die Hungertoten – hauptsächlich in der Ukraine - und die unzähligen Opfer der Gulags, dann die des Großen Terrors, jeweils durch Stalin zu verantworten, seien es die Morde durch Deutsche und Sowjets in Polen, um ein Land zu brechen und unter sich aufzuteilen, seien es die Hungertoten unter den sowjetischen Kriegsgefangenen und natürlich und eigentlich an erster Stelle zu nennen die europäischen Juden, jeweils durch Hitler zu verantworten, nicht zu vergessen unter anderem die Toten der baltischen Staaten.
Das alles ist im Grunde nicht neu, man hat es schon in irgendeiner Form gelesen, mal die Gräuel der Nazis, mal die der Sowjets betreffend. Snyder wählt allerdings einen anderen Ansatz: Er definiert einen Raum, nämlich die von ihm so genannten „Bloodlands“: Zentralpolen bis Westrussland, einbezogen sind die baltischen Staaten, die Ukraine und Weißrussland; er definiert diesen Raum für den Zeitraum 1933 bis 1945. In diesem Raum waren mal Sowjets, mal Deutsche, manchmal beide an der Macht; in eben diesem Raum sind vom nationalsozialistischen wie vom stalinistischen Regime die 14 Millionen Opfer unter der Zivilbevölkerung verantworten. Er zeigt auf, wie innerhalb dieser Machtbereiche Gewalt ausgeübt wurde, aus welchem Grund, ja wie die Gewaltexzesse sich bedingten und Gewalt Gegengewalt erzeugte. Die in mir aufkommende Fragen, warum sich diese Gewaltexzesse des einen oftmals die des anderen nach sich zogen, wie eine solche Gewaltspirale möglich war, wie sie zu erklären ist, warum es ausgerechnet diese Länder zu „Bloodlands“ wurden, wurden mir in dem Buch nicht beantwortet – fraglich ist ohnehin, ob sich darauf eine Antwort finden ließe; es ist wohl auch nicht Aufgabe des Historikers, für eine solche Antwort zu sorgen.
Snyder bringt unendlich viele Zahlen an, verdeutlicht sie durch Wiederholung, erwähnt den Prozentsatz der Opfergruppe innerhalb einer Länderbevölkerung, davon den Prozentsatz der tatsächlichen Opfer – man liest das alles, versucht es zu begreifen, doch irgendwann weigerte sich mein Verstand, noch irgendetwas davon aufzunehmen. Und als wenn Snyder das geahnt hätte, bringt er dann die Namen von Opfern an, einzelne Menschen werden in ihrem eigenen, ganz persönlichen Schicksalsmoment vorgestellt, und so bekam ich als Leserin wieder einen Bezug zum Buch, zum Thema, kam ich weg von dem nicht Vorstellbaren, von der Abstraktion der Zahlen und hin zum Menschlichen. So standen die wenigen Toten, denen er den Namen zurückgab, für mich für all die anderen, unzähligen, erbarmungslos Gemordeten, die niemand mehr mit Namen ruft; hinter jedem Namen eine Reihe unendlich vieler namenloser Schatten.
Snyder berichtet über Grauenhaftes; für mich das schlimmste Kapitel ist das 8. mit dem Titel „Todesfabriken“. Auschwitz, dieser Name steht für mich wie vermutlich für viele andere für den Holocaust. Snyder legt dar, dass Auschwitz das „letzte Kapitel“ (Seite 261) der "Aktion Reinhard" und der „Höhepunkt des Holocaust“ (Seite 281) war, vor diesem KZ und Vernichtungslager standen (zeitlich) die Todesfabriken von Chelmno, Belzec, Sobibór, Treblinka, und Majdanek. Er legt im Weiteren auch dar, wie aus westlicher Sicht Auschwitz zum Synonym für den Holocaust wurde, welche Auswirkungen das sich Senken des Eisernen Vorhangs auf diese Sicht hatte. Diskussionswürdig wird sicherlich sein, dass Snyder den Holocaust in eine Reihe mit anderen Verbrechen und Vernichtungs“kampagnen“ der Nazis stellt, unter anderem den „Blitzkrieg“ gegen die Sowjetunion, der nach Eroberung derselben zur millionenfachen Ermordung, ja man muss wohl sagen Ausrottung der dortigen Bevölkerung durch Verhungern führen sollte.
Den zitierten Satz von Seite 418 halte ich im Übrigen nicht für richtig, denn vor dem Sterben kam zunächst einmal das Leiden, und das war immens. Snyder berichtet auch insoweit sehr genau, als Leser wird einem nicht sehr viel erspart.
Es würde in dieser Buchvorstellung zu weit gehen, auch auf Snyders Auseinandersetzung mit Hanna Arendt einzugehen, Erwähnung finden sollte aber unbedingt seine Wertschätzung für Wassili Grossman, der in seinen Romanen „Leben und Schicksal“ und „Alles fließt“ schon eine Sichtweise Snyders vorwegnimmt, nämlich die Täter von beiden Seiten, die Verbrechen der beiden Systeme in „denselben Szenen“ (Grossman – Seite 388) resp. Buch (Snyder) zu beschreiben und sie gewissermaßen zu vergleichen (nur nebenbei bemerkt: Die erwähnten Romane sind absolut lesenswert).
Ebenso sollte Erwähnung finden, dass in den letzten beiden Kapiteln die politische und gesellschaftliche Situation in den Bloodlands bzw. im Einflussbereich Stalins nach 1945 beschrieben wird, besonders auch im Hinblick auf die jeweiligen Versuche und Projekte, die Geschichte im eigenen Interesse „umzuschreiben“, was immer zu Lasten der jüdischen Opfer ging.
Ein Wort zu Sprache: Das Buch liest sich – wären da nicht die von mir erwähnten Schwierigkeiten – im Grunde gut und flüssig, es gibt allerdings einzelne Begriffe, bei denen sich mir schlicht die Nackenhaare sträubten; einer sei stellvertretend erwähnt, nämlich „effizientes Töten“. Sicherlich aus Snyders Sicht in der betreffenden Argumentation der passende Ausdruck, trotzdem empfinde ich ihn in Bezug auf die Massenmorde grauenhaft – unendlich viel grauenhafter ist allerdings die Tatsache, dass es dieses „effiziente Töten“ gab, dass keine Mühen gescheut wurden, um das Töten noch „effizienter“, so „effizient“ wie möglich zu machen.
Fazit:
Ein Buch, über dessen Thesen - in meinen Augen besonders über die Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Stalinismus sowie über die Verortung des Holocaust - sich diskutieren lässt.
Die Thematik, nämlich die Massenmorde zweier Regime, muss im Gespräch bleiben – weil niemals vergessen werden darf, was in den „Bloodlands“ - und nicht nur dort - geschah.
Noch ein Fazit:
Der erste Satz des Buches ist der schönste: "Jetzt werden wir leben!" (Seite 9). Danach heißt es tief durchatmen und Nerven bewahren.
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Nachtrag (vom 04.01.2012):
Dieser Aufsatz des Autors gibt einen guten Überblick über das wieder, was in dem Buch zur Sprache kommt.
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