Der Flüchtling - Massimo Carlotto

  • Das Buch (Klappentext)
    DIE BESTEN KRIMIS SCHREIBT DAS LEBEN
    Sechs Jahre Gefängnis, fünf Jahre Exil, elf Prozesse. Ein Leben unter Terroristen. Der große italienische Krimiautor Massimo Carlotto hat aus seiner unglaublichen Lebensgeschichte spannende Literatur gemacht.
    "Ich bin ein Stück Justizgeschichte, der 'Caso Carlotto'. Auf der Straße, im Zug oder im Flugzeug werde ich oft angesprochen: "Heh, Sie sind doch der Fall Carlotto!" Nicht nur, dass ich als der langwierigste und meist diskutierte Fall der italienischen Rechtsgeschichte bekannt bin, ich werde auch an den Universitäten studiert, als Extremfall, einer, der sich nicht wiederholen wird."


    Der Autor (Klappentext)
    Massimo Carlotto, geboren 1956 in Padua, lebt heute auf Sardinien. Er ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller Italiens.


    Meine Meinung
    Es fällt mir ehrlich gesagt ziemlich schwer, hier eine sachlich Rezension zu schreiben, denn klar, die sind immer subjektiv, aber bei dem Buch.... puh!


    Ich hatte mich gefreut auf eine Schilderung eines juristischen Falls, der sich über Jahre hinzieht, der von Ungerechtigkeiten der Justiz aus der Sicht des Betroffenen geschildert wird, der Auswirkungen auf das Rechtssystem von Italien hat.
    Bekommen habe ich leider eine unmotivierte Schilderung von "Ich rauche zu viel", "Ich fresse zu viel" und "Ich habe so viele tolle Freunde" (mehr wird auf die aber nicht eingegangen).


    Was mich zudem extremst gestört hat, und was ich finde, dass in der Übersetzung eines Buchs in eine Sprache, die nicht täglich mit dem "Caso Carlotto" befasst sind, gar nicht fehlen darf: Es gibt im Buch keine wirkliche Beschreibung, für bzw. wegen was Carlotto eigentlich verurteilt wurde. Außer man liest das Ende, die Chronik gleich zuerst oder sieht, wie ich es nach 20 Seiten zufällig getan habe, dass auf der einen inneren Umschlagklappe auch noch steht, was ihm denn vorgeworfen wurde. Ich bin aber eigenltich jemand, der Schutzumschläge erst einmal weglegt, um die nicht zu verknicken, d.h. wenn das Buch meines und nicht aus der Bibliothek (und damit samt Schutzumschlag in eine Folie eingebunden) gewesen wäre, hätte ich am Ende des Buches erfahren, was denn nun eigentlich passiert ist. Und das geht in diesem Fall gar nicht!!


    Carlotto wird also der Mord an einer Studentin, die er zufällig findet, zur Last gelegt. In diesem Innenklappentext wird auch auf seine Mitgliedschaft in einer linksradikalen Bewegung hingewiesen und ich hatte bei Amazon eine Rezension gelesen, die das Buch total gelobt hat und die herausgestellt hat, wie schön Carlotto doch im Buch auch diese Bewegung für die Leser verständlich macht. Häh? Hab ich ein anderes Buch gelesen? Oder ist das so zwischen den Zeilen, dass ichs nicht verstehe? Wahrscheinlich.
    Klar erzählt er auch etwas zu dieser Bewegung, aber mehr in die Richtung "Ich bin dort hingegangen weils da warm war und meine Freunde da waren. Dann saß ich dort und habe geraucht und dann sind wir wieder heimgegangen." Hintergründe oder geschichtliche Herleitungen, seine Beweggründe werden mir einfach gar nicht dargestellt.


    Die Jahre, die er im Exil zuerst in Frankreich und dann in Mexiko verbringt, sind rastlos und genau das ist das Buch auch. Mal hier, mal da, trallala, wieder zurück und der Leser, der das erste Mal vom "Fall Carlotto" hört, ist überfordert und denkt, der gute verbringt bestimmt 30 Jahre auf der Flucht. Unbedeutende Situationen werden aufgeblasen und die Stellen, an denen es interessant wird (als z.B. ein Sohn von Freunden in der U-Bahn in Mexico City einfach verschwindet), werden mit belanglosen Weisheiten gefüllt.


    Kurz und knapp also: Dieses autobiographische Werk ist nur etwas für hartgesottene Carlotto-Fans, zu denen ich mich wohl nie zählen werde. Aufgeblasene Nichtigkeiten und seitenlange Schilderungen (die sich wiederholen), wie er aufgeflogen ist, sind mir einfach zu langweilig für ein unterhaltsames Leseerlebnis von einem Krimiautor. Da es sich aber nur um knapp 200 Seiten gehandelt hat, habe ich durchgehalten.
    Danke, letztes Buch von ihm...

  • Seine Genre sind Thriller und Krimis in denen es um die Mafia, die korrupte Gesellschaft, bestechliche Politiker, das Militär, um Skandale geht, die einen nicht einfach so kalt lassen können, weil sie zu viele reale Bezüge enthalten. Seit seinem Debütroman Il fuggiasco verfasste er etwa 20 Romane, die übersetzten tragen Titel wie Tödlicher Staub, Wo die Zitronen blühen, Banditenliebe oder auch Die dunkle Unermesslichkeit des Todes.


    In seinem autobiografischen (Debüt-)Roman erzählt Massimo Carlotto jedoch seine Geschichte, die ihren Anfang 1976 nahm. Damals meldete der linksradikal eingestellte 19jährige Massimo Carlotto den Mord einer Kommilitonin, wurde festgenommen, wegen Mordes angeklagt. Über ein Jahr später wurde er zunächst freigesprochen, dann zu 18 Jahren verurteilt, sein Revisionsantrag 1982 abgelehnt. Carlotto gelang die Flucht, die ihn über Paris nach Mexico führte. Drei Jahre später kam er erneut ins Gefängnis. Bevor seine Begnadigung im Jahr 1993 aufgrund einer Gesetzesänderung aus Mangel an Beweisen erfolgte, musste Carlotto lernen zu überleben. Unter politisch Verfolgten ebenso wie unter Schwerverbrechern. Heute zählt der 1956 in Padua geborene Carlotto zu den erfolgreichsten Krimiautoren Italiens.


    Doch zurück zu Der Flüchtling der im Original bereits 1994 erschienen ist und dazu beigetragen haben dürfte, dass der Autor nach 17 Jahren Exil und Gefängnis als Opfer der Justiz auch über die Grenzen Italiens und diverser Organisationen hinaus bekannt ist. Der Roman beginnt nach seiner Abschiebung aus Mexico und der erneuten Festnahme in Italien. Das Buch lag bedauerlicherweise länger auf meinem SuB. Nicht wirklich ungelesen, aber unbesprochen, weshalb ich es am vergangenen Wochenende ein zweites Mal in Angriff nahm. Gleich vorab: Die Wirkung ist die gleiche geblieben.


    Wer erwartet, Genaueres über den Mordfall zu lesen oder denkt, dass Carlotto nur mit der italienischen Justiz abrechnen will, liegt falsch. Stattdessen erfährt man von seinem jahrelangen Untertauchen, der Angst vor Verfolgung, daraus resultierender Panik, Todesangst, schweren gesundheitlichen Folgen.


    Die Flucht und das Untertauchen - beides ist nur durch Helfershelfer möglich und man kann Carlotto einerseits getrost beglückwünschen, dass er darauf zurückgreifen konnte. Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, wohin ich mich im Fall der Fälle so schnell und sicher wenden sollte. In gewisser Weise hatte er auch Glück, weil sich beispielsweise 1985 das internationale Komitee Gerechtigkeit für Massimo Carlotto gründete und in Italien, Frankreich und England aktiv um seine Freilassung bemühte oder ab 1987 auch die Internationale Liga für Menschenrechte für ihn kämpfte, indem sie eine Untersuchung des Falles einleitete und sich für eine Wiederaufnahme des Verfahrens aussprach. Andererseits half ihm das zwar insgesamt betrachtet, konnte jedoch weder die psychischen noch die physischen Folgen verhindern. Die Jahre, die ihm so genommen wurden, kann ihm niemand zurückgeben, die gemachten Erfahrungen niemand abnehmen.


    Unsentimental, geradezu nüchtern und gleichförmig distanziert berichtet der Autor von diesen Erlebnissen. Dennoch werden Verzweiflung und Verfolgungswahn deutlich, fordern zunehmend Raum. Obwohl er unter falschem Namen mit falscher Identität leben kann und dabei durchaus kein vollkommen isoliertes Dasein in einem abgeschlossenen Raum fristet, befindet sich der Autor doch in keiner Gemeinschaft, fühlt sich alleine. Niemand kann den Druck abfedern, der auf ihm lastet und der plötzlichen Entwurzelung geschuldet ist. Der durch falsche Identitäten ebenso wächst wie durch das Fehlen eines sicheren sozialen Milieus. Da hilft es auch nichts, dass seine Familie ihn finanziell in der Fremde unterstützt. Aus Angst vor Entdeckung führt ihn seine Flucht von Paris nach Mexico. Was in Paris zunächst noch recht gut funktioniert, kann in Mexico nicht gut gehen. Dort wird nicht nur der Kontakt zu seiner Familie zunehmend schwieriger bis unmöglich. Zu katastrophal ist auch das damalige Leben dort. Dennoch überlegt Carlotto, ob er die mexikanische Staatsbürgerschaft annimmt. Dazu braucht er jedoch Hilfe. Er vertraut sich dem Falschen an. Der nimmt ihn nicht nur nach Strich und Faden aus, sondern verrät ihn zudem an die dortigen Behörden. Prompt wird Carlotto nach Italien abgeschoben.


    Paranoia ist ein Gefühl, das entsteht, wenn wir uns verfolgt fühlen. Es ist keine Paranoia mehr, wenn wir denn tatsächlich verfolgt werden und so scheint der Begriff im Bezug auf den Autoren eindeutig falsch gewählt. Doch ohne dass Carlotto etwas davon ahnt, ist der Haftbefehl gegen ihn auf wundersame Weise verloren gegangen. Niemand sucht nach ihm. Und nur, weil er sich nach seiner Abschiebung bei der Ankunft in Italien selbst stellt, wird er wieder fest genommen.


    Es folgen nicht nur für ihn nervenaufreibende Jahre, in denen sein Fall wiederbelebt wird und gleichzeitig unendlich scheint. Carlotto droht zwischen den Mühlrädern der Justiz zerrieben zu werden. Hängt hoffnungslos zwischen Verfahren, Urteilen, Folgeprozessen, Gefängnis und Haftverschonung, ohne dass die Aussicht besteht, dass alles irgendwann einmal ein Ende hat. Ein Gnadengesuch könnte ihm helfen. Allerdings stellt sich die Frage, wie er bereuen soll, was er nicht getan hat. Um es selbst stellen zu können, müsste er jedoch Reue zeigen. All das fordert nicht nur in zunehmenden gesundheitlichen Beschwerden Tribut, sondern lässt auch Suizidgedanken in ihm aufkeimen. Erst ein entsprechendes Gesuch seiner Eltern sorgt letztlich für seine Begnadigung, nachdem die italienische Gerichtsbarkeit auch auf zunehmenden öffentlichen, teils internationalen Druck nicht bereit war, einzulenken.


    In diesem autobiografischen Roman geht es wie eingangs erwähnt, weniger um die juristische Aufarbeitung und Abrechnung mit der Justiz. Die gefühlsmäßigen Folgen der Flucht, des Untertauchens, der elf teils selbst initiierten Prozesse und der Gefängnisaufenthalte stehen im Vordergrund. Zwar wird sehr deutlich, wie die Justiz gegen rechtsstaatliche Denkweisen verstößt. Doch noch viel klarer kristallisieren sich die Folgen aus der eigentlich an sich unspektakulären Tatsache heraus, dass der Autor zur falschen Zeit am falschen Ort war. Die daraus entstehende alltägliche und sich über viele Jahre hinziehende Tortur füllt die Seiten des 184 Seiten starken Hardcoverbuches sehr nachdrücklich. Bildhaft und erschütternd lässt Carlotto seine LeserInnen daran teilhaben, hebt das Unerträgliche daran gerade durch seinen distanzierten Sprachstil hervor.


    Fazit:


    Obwohl flüssig geschrieben, lässt sich Der Flüchtling nicht einfach so nebenbei lesen. Dazu erschüttert die Thematik zu sehr. Wer leicht verdauliche, vorwiegend unterhaltsame Mainstream-Geschichten mag, sollte die Finger von diesem Buch lassen. Was davon der Fantasie des Autors oder der von ihm erlebten Realität geschuldet ist, weiß vermutlich nur er selbst. Mit Der Flüchtling hat er jedoch einen autobiografischen Roman geschaffen, der auch nach Beendigung der Lektüre für ein überaus unangenehmes Gefühl sorgt, den man nicht so einfach vergisst. Deshalb möchte ich dem Roman fünf von fünf Punkten geben.


    Copyright ©2012, Antje Jürgens (AJ)

    Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.
    Mark Twain