Ein Anruf von Sebastian - Irina Korschunow (ab ca. 14 J.)

  • Erstmals erschienen 1981



    Es beginnt mit einer Trennung. Sabine - Bine - verläßt Sebastian. Seit über zwei Jahren sind sie ein Paar, sie siebzehn, er achtzehn, kurz vor dem Abitur. Sebastians Ziel ist, Violinist zu werden und so lebt er. Die Geige kommt zuerst, jederzeit. Immer muß er üben, eine Solokarriere läßt nichts anderes zu. Für Bine war es unbedingt leicht, das zu akzeptieren, aber sie hat es getan, weil ihr das Akzeptieren leichtgemacht wurde. Frauen tun das und können das, das suggerierten Mutter, Großmutter, Vater und auch die Mutter von Sebastian.
    Nun hat Bine aber eigene Berufswünsche, sie möchte Chemie studieren. Schon Abitur zu machen, ist problematisch, ihr Vater hält nichts von höherer Ausbildung für Mädchen. Sie soll die Schule verlassen und eine Lehre machen. Abitur und Studium ist für den kleinen Bruder geplant, den elfjährigen Berti.


    Die Trennung von Sebastian bringt Bine dazu, ihre engste Umgebung mit geschärftem Blick zu beobachten. Die Muter, die dem Vater in allem nachgibt, die Großmutter, die die Mutter dazu anhält, ein Leben lang schon, eben das zu tun. Den kleinen Bruder, dem vieles nachgesehen wird, und bei dem manches übersehen wird, z.B., daß ihn die Schule nicht besonders interessiert. Hat er schlechte Noten, ist die ältere Schwester da, mit ihm zu üben, bis der Stoff sitzt. Bine mag ihren kleinen Bruder, trotzdem findet sie es ungerecht.


    Als der Vater beschließt, ein Häuschen auf dem Land zu kaufen, gerät die Familie in eine Krise. Zu Bines Entsetzen gibt ihre Mutter, die eigentlich gegen den Umzug ist, rasch nach. So landen sie am Rand eines Dorfs. Die Kinder müssen die Schule wechseln. Als Bine von ihrer Großmutter wertvolle Möbel erbt, erwartet ihr Vater, daß sie sie verkauft und ihm das Geld für das neue Haus gibt. „Wir sind doch eine Familie“, sagt er. Aber bedeutet das für ihre einzelnen Mitglieder automatisch Selbstaufgabe?


    In diesem Jugendroman diskutiert Korschunow mit konsequenter Härte die Frage von Beziehungen unter Menschen, die sich im Grund in Liebe zugetan sind. Liebe ist es, die dabei die eigentlichen Probleme verursacht, denn dieses Gefühl muß definiert werden. Ist Liebe Selbstaufgabe um jeden Preis? Wann ist Liebe verkappter Egoismus? Wann darf man sich durchsetzen? Was ist ein echter Kompromiß? Was darf man fordern? Darf man überhaupt Forderungen stellen und wer bestimmt, wann man genug gegeben hat? Vor allem aber: wie ist das mit Träumen? Wer darf sie verwirklichen?


    Die Geschichte ist nicht leicht zu lesen, sie fühlt sich an, wie Sandkörner auf der Haut, man reibt sie immer wieder weg und trotzdem wird man sie nie los. Es ist eine Geschichte von bitteren Kämpfen innerhalb eines Beziehungsgeflechts, nicht nur für einen eigenen Weg, sondern auch darum, bereit zu sein, etwas zu geben. Korschunow widmet sich vornehmlich der Seite des Gebens, die so leicht übergangen wird, nämlich, daß das Geben, so überzeugt es auch geschieht, die Gebenden etwas kostet. Daß ihnen am Ende etwas fehlt, auch wenn sie etwas zurückbekommen.
    Der Schluß ist hakelig, allerdings bleibt vieles offen. Bines Familie und Sebastian haben neue Wege eingeschlagen, was sich zu Anfang trennte und im Verlauf der Handlung immer weiter voneinander entfernte, findet erneut zusammen für einen neuen Versuch. Mit neuen Kompromissen. Ob und wie lange sie halten werden, darüber dürfen die LeserInnen nachdenken.


    Sehr anspruchsvolles, trotz veränderter äußerer Umstände nach wie vor aktuelles Thema.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()

  • Da wird offensichtlich eine Geschichte erzählt, die so richtig "aus dem Leben gegriffen" ist. Hört sich wirklich sehr interessant an. In Anbetracht meines riesigen SUBs wird dieses Buch aber wohl erstmal nur auf der Wunschliste landen. In jedem Falle aber herzlichen Dank an Magali für diese mehr als informative Rezi. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich schließe mich Voltaire an. Der Name der Autorin kam mir so bekannt vor und nach kurzem Nachdenken habe ich mich an "Die Sache mit Christoph" erinnert, dieses Buch habe ich in meiner Jugend begeistert mehrmals gelesen. :wave

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)

  • Ich habe Korschunow immer gern gelesen, wie schon an andere Stelle bemerkt, kannte aber bis vor kurzem nur ihre Romane, nicht die Jugendbücher. Da ist mir etwas entgangen, aber sie erschienen in einer Zeit, in der ich alles mögliche gelesen habe, bloß um Himmels Willen keine Jugendbücher. :lache


    Romane wie 'Das Spiegelbild oder 'Malenka' oder 'Eulenruf' haben mich in den späten 1980ern beeindruckt und auch geprägt.
    An den Jugendbüchern schätze ich die konsequente Denkweise und die moralische Grundüberzeugung. Auch wenn es nicht immer meine moralische Überzeugung ist.


    Die 'Sebastian'-Geschichte fand ich entschieden 'aus dem Leben gegriffen'. Die Lektüre war nicht zuletzt deswegen so unangenehm, weil mich die Vorgänge an einiges Private, aber auch an Geschichten aus dem Freundeskreis erinnert hat. Sie ist streckenweise ein überraschend präzises Zeitzeugnis und leider teilweise problemlos ins Jahr 2011 zu übertragen.


    Die genannten Bücher sind alt, aber nicht nostalgisch. :grin



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Danke für die Rezension, die sich für mich danach anhört, dass Übergänge zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur durchaus fließend sein können.
    Spannend scheint auch die Biografie dieser Schriftstellerin zu sein, die bei Wikipedia leider nicht ausführlich vorgestellt wird. Ich werde weitersuchen.

  • Der dtv-Verlag schreibt:



    Irina Korschunow


    Irina Korschunow stammt aus einer deutsch-russischen Familie. Sie wurde am 31. Dezember 1925 in Stendal geboren und ist auch dort aufgewachsen. Sie studierte Germanistik in Göttingen und lebt heute in der Nähe von München.


    Als Kinderbuchautorin wurde sie zunächst durch ihre ›Wawuschel‹-Bände bekannt. Neben zahlreichen weiteren Kinderbüchern, die in viele Sprachen übersetzt und vielfach mit Preisen bedacht worden sind, wurden besonders ihre Erstlesetexte ›Hanno malt sich einen Drachen‹ (dtv junior 7561) und ›Der Findefuchs‹ (dtv junior 7570) große Erfolge und zählen längst zu Klassikern ihres Genres.


    Bei ihren Kinderbüchern arbeitet Irina Korschunow gern mit dem renommierten Illustrator Reinhard Michl zusammen, der neben dem ›Findefuchs‹ beispielsweise auch ihre Erstlesetexte ›Wuschelbär‹ (dtv junior 7598), ›Kleiner Pelz‹ (dtv junior 75053), ›Kleiner Pelz will größer werden‹ (dtv junior 75003) und ›Es muss auch kleine Riesen geben‹ (dtv junior 75050) illustrierte. Mit ›Er hieß Jan‹ (dtv pocket 7823), ›Die Sache mit Christoph‹ (dtv pocket 7811) und ›Ein Anruf von Sebastian‹ (dtv pocket 7847) legte Irina Korschunow auch drei sehr erfolgreiche Jugendromane vor, die zeitnahe Probleme behandeln. In letzter Zeit ist Irina Korschunow besonders durch Romane für Erwachsene hervorgetreten, die große Beachtung fanden.


    Für ihr Gesamtwerk erhielt sie die Roswitha-Gedenkmedaille, den Literaturpreis der Stadt Gandersheim. Irina Korschunow über ihr künstlerisches Selbstverständnis:


    »Autorin, ganz einfach Autorin. Unter anderem deshalb, weil dann den Leuten, die sich theoretisch mit mir zu befassen haben, die Einordnung meiner schreibenden Person leichter fiele. Denn es gibt von mir neben Büchern für Kinder auch Bücher für Erwachsene, Grund für mancherlei Schwierigkeiten offenbar. Als ›Kinderbuchautorin und Schriftstellerin‹ hat man mich schon bezeichnet, in säuberlichem Kästchendenken, und sogar hin und her überlegt, ob ich vielleicht ein bisschen schizophren sei. Worüber sämtliche Schichten in mir, das Kind, der junge Mensch, der ältere, immer ältere, all das, was sich so übereinander schiebt im Laufe eines Lebens, nun wirklich lachen mussten.«


    Diese Seite scheint interessant zu sein.

  • Zitat

    Die genannten Bücher sind alt, aber nicht nostalgisch.


    So, wie ich das in Erinnerung habe, schien mir der Protagonist "Christoph" seiner Zeit sogar irgendwie vorraus. Zehn Jahre weiter hat er bestimmt Pearl Jam und Nirwana gehört. :grin


    Ich hab grade mal durchgeblättert- ich finde es auch heute noch richtig gut und irgendwie aktuell. So, der sebastian landet jetzt auch mal auf meiner WuLi.

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)