Da ist er wieder, der gute alte Peter James - und der gute alte Roy Grace. Ich habe beide herzlich willkommen geheißen, und mich schon nach kürzester Seitenzahl wieder wie zu Hause gefühlt. Peter James ist ein durch und durch routinierter und versierter Autor mit hohem Wiedererkennungswert, und dementsprechend hat er mit diesem 6. Fall um Roy Grace zwar kein bahnbrechendes, aber doch sehr ansprechendes Werk vorgelegt.
Die Leseprobe hat mich ganz und gar nicht getäuscht. Es ist dieselbe Handschrift, dasselbe ausgetüftelte Vorgehen eines Autors, der nicht nur gerne schreibt, sondern auch die Bedürfnisse seiner Leser (vor allem seiner langjährigen) versteht. Er hebt sich vom (zumeist amerikanischen oder skandinavischen) Thriller-Mainstream durch eine wohltuend "britische" Schreibweise ab. Dies zeichnet sich aus durch eine weitestgehend erfreulich unblutige Handlung, kurze Szenen, die dennoch elegant und flüssig geschrieben sind, eine Prise Privatleben des Ermittlers, einen spürbaren Akzent auf konkrete Ermittlungsarbeit und Polizeihierarchien, und (was nun wirklich sehr britisch ist) eine deutliche Thematisierung von sozialen Unterschieden zwischen den verschiedenen, auftretenden Personen.
Sicher, ein geübter Leser hat das "Rezept" für dieses Buch schnell durchschaut. In den ersten ca. 5 Kapiteln weiß man alles, worauf es in diesem Buch ankommen wird: ein Sexualstraftäter, der außerdem Schuh-Fetischist ist, eine Handlung, die sich auf zwei Zeitebenen bewegt (1997 und 2009), genau drei verdächtige Männer, die es alle gewesen sein könnten - und eine diskrete weitere Erforschung der Frage, was aus Roy Graces verschwundener Frau Sandy geworden sein könnte.
Doch wie dieses Rezept umgesetzt wird, hat mich absolut in seinen Bann gezogen. Sicher erforderte der stetige Perspektiven- und Zeitwechsel hohe Konzentration. Doch das hat zu dieser Handlung gerade deshalb gut gepasst, weil es eben um die Erforschung der Parallelen zwischen den damaligen und den heutigen Fällen ging. Man fieberte gerade deshalb umso mehr mit Roy Grace, weil man seine damaligen Zweifel und Ermittlungsfortschritte und -fehler genau in der Gegenwart gespiegelt sah! Genial gemacht war auch die Taktik mit den drei verdächtigen Männern, die das ganze Buch hinweg aufgebaut und vom Autor begleitet werden. Einer ist ein merkwürdiger Taxifahrer mit allerlei Zwangsneurosen, einer ein gerade aus dem Gefängnis entlassener Kleinkrimineller, und einer erfolgreicher Geschäftsmann mit diversen Problemen. Alle drei werden gleich sorgfältig behandelt, und zu fast keiner Zeit kann der Leser ermessen, wer es denn nun gewesen ist. Die belastenden Hinweise werden bei jedem wohldosiert vom Autor verstreut. Und alle paar Kapitel schwankt man erneut - "der war's jetzt aber!" Doch nein. Zu früh gefreut. Das I-Tüpfelchen war dann für mich, dass sich die drei im ganzen Buch (unwissentlich!) immer wieder knapp über den Weg laufen, und so für Verwirrung bei den Ermittlern sorgen. Absolut genial!
Der Spannungsbogen konnte diesmal die ganze Zeit über kontinuierlich gehalten werden, ja, er zog sogar auf den letzten 80 bis 50 Seiten noch einmal heftig an. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war es für mich unmöglich, das Buch noch aus der Hand zu legen! Das Hin- und Herschalten zwischen den verschiedenen Perspektiven hat hier zusätzlich die Dramatik erhöht. Denn beinahe, aber auch nur beinahe, hätte alles am Ende schiefgehen können. Nur der inneren Stimme von Roy Grace, und dem Mut und der Tatkraft des letzten Opfers ist es zu verdanken, dass der Täter gefasst werden konnte. Ich habe mich besonders gefreut, dass hier einmal ein starkes, kein wehrloses Opfer gezeigt wurde.
Zugegeben, ohne Fehler ist dieses Buch nicht. Die Fortführung der Frage um das Verschwinden von Sandy, Roy Graces damaliger Frau, ist doch ein wenig dünn ausgefallen. Hier hatte ich deutlich mehr erwartet. Für mich ist das nur dadurch erklärlich, dass eben die Lösung dieses Rätsels auf die gesamte (!) Reihe um Roy Grace angelegt ist. Insofern ist dieser Band dann wieder recht spannend, weil er eine ganz neue Seite an Sandy enthüllt, die der Leser bislang nicht kannte. Die Ehe war keineswegs perfekt, oh nein!
Einen weiteren "Kratzer" erhält das Buch durch die Tatsache, dass Roy Grace hier im Wesentlichen nur als Bürohengst auftritt. Wenn Ermittlungen im "Draußen" stattfinden, werden sie zumeist von seinen Kollegen erledigt. Er selbst beruft "nur noch" Besprechungen ein, und leitet sie. Immerhin, es ist sein Gespür, das ihm gegen Ende den richtigen Weg weist.
Ein anderer Vorablesen-Rezensent hat bereits auf wesentliche logische Fehler und Ungereimtheiten hingewiesen, die ich hier nur kurz anreißen möchte: einmal wird die erste Neu-Vergewaltigung um 12.55 Uhr entdeckt, ein andermal um 13.30 Uhr; einmal trug das damalige Opfer, Rachael Ryan, Lederstiefel, ein andermal Riemchen-Pumps; und es gibt diverse Rechtschreib-Fehler (einer davon sogar gleich auf dem rückseitigen Cover!). Eine zusätzliche logische Lücke habe ich auch noch entdeckt. In der Showdown-Phase zwischen dem letzten Opfer und dem Täter heißt es zunächst, der Täter wolle nur eben sein Nachtsichtgerät aus dem Wohnwagen holen. Doch im nächsten Absatz / Kapitel ist auf einmal eine ganze Stunde vergangen! Man braucht ja wohl keine Stunde, um ein Gerät aus einem Wagen zu holen!
Dies alles macht mir eine Bewertung nach Punkten sehr, sehr schwer. Denn einerseits war ich von dem Buch vollkommen gefesselt, andererseits habe ich auch die erwähnten Macken klar wahrgenommen. Ich möchte dem Autor aber zugute halten wollen, dass diese Fehler womöglich durch mangelndes, unsorgfältiges Lektorat stehengeblieben sind. Dem eigentlichen Fall schaden sie nicht so sehr. Daher entscheide ich mich letztlich doch für die volle Punktzahl - mit einem gedachten, leisen "Minus" davor.