Ragnar Jonasson: Schneebraut

  • Ragnar Jonasson: Schneebraut
    Scherz Verlagr 2011. 368 Seiten
    ISBN-13: 978-3651000223. 15,95€
    Originaltitel: Snjóblinda
    Übersetzerin: Usula Giger


    Verlagstext:
    Winter in einem kleinen, abgelegenen Fischerdörfchen im Norden von Island, das nur durch einen Bergtunnel zu erreichen ist. Eine junge, halbnackte Frau liegt blutend und bewusstlos im Schnee. Ein alter Schriftsteller stürzt im Theater zu Tode. Ari, der neue Polizist am Ort, erkennt rasch, dass er erst die Verbrechen der Vergangenheit aufklären muss, um die Fälle der Gegenwart lösen zu können. Und das in einem Dorf, wo er niemandem trauen kann und wo ihm auch niemand helfen will.


    Über den Autor:
    Ragnar Jonasson wurde 1976 in Reykjavík geboren und ist Autor und Jurist. Er hat vierzehn Romane von Agatha Christie ins Isländische übersetzt. Sein erster Kriminalroman »Falska nótu« (Falsche Rechnung) erschien 2009. »Schneebraut« ist sein erster Thriller mit dem jungen Polizeibeamten Ari.


    Inhalt:
    Wer direkt nach dem Examen an der Polizeischule eine Stelle angeboten bekommt, sollte gleich zugreifen und keine großen Ansprüche stellen, hatte sich Ari gedacht. Während sein Chef mit Ari gemeinsam durch den Tunnel nach Siglufjördur im ländlichen Norden Islands fährt, ist Ari sich seiner Entscheidung nicht mehr so sicher. Als er zum Dienst über die Weihnachtsfeiertage eingeteilt wird - die älteren Kollegen haben Familie - gibt es Ärger mit Aris Freundin, die erwartet, dass er in Reykjavik und sonst nirgends mit ihr Weihnachten feiern wird. Tómas, der Leiter der Polizeidienststelle, stellt gleich klar, dass im Norden anders gearbeitet wird, dass es hier oben nicht darauf ankommt, so viele Personen wie möglich zu bestrafen. Als erster Fall beschäftigt Ari ein ungeklärter Tod unter Laien-Schauspielern. Der betagte Hrólfur ist während der Probe im alten Kino tödlich verunglückt. "Hier passiert nie etwas" hatte Tómas seinem jungen Kollegen versichert und er will den Fall so bald wie möglich als Unfall zu den Akten legen. Obwohl er von den Dorfbewohnern noch nicht so richtig ernst genommen wird (warum muss Ari sich den Zeugen noch immer als Polizist vorstellen, obwohl er in Uniform ist?), ermittelt der junge Polizist sehr viel ausdauernder als sein Chef. In einer Laien-Theatergruppe treffen unterschiedliche Menschen aufeinander, vielen bot sich eine Gelegenheiten zur Tat und noch mehr mögliche Motive sind denkbar. Ari profitiert bei seinen Ermittlungen von seiner Freundschaft zu Ugla, die im Stück der Theatergruppe die Hauptrolle spielt. Er entdeckt in der Truppe manch kapriziöse Person, alte Geschichten von Auswanderern und Rückkehrern, sowie Anlass zu Neid und Missgunst. Als eine weitere Person schwer verletzt im Schnee gefunden wird, muss sogar Tómas zugeben, dass er im Fall des verunglückten Hrólfur zu gutgläubig ermittelte. Ari hält zwar nicht immer den korrekten Dienstweg ein, doch er hört den Leuten geduldig zu und kommt so zum Ziel. Es gibt viele Gründe in Siglufjördur zu leben und viele Gründe, warum die Menschen allein sind. Nach einigen überraschenden Wendungen und ausgiebigen Blicken ins Privatleben der Bewohner von Siglufjördur werden schließlich beide Fälle gelöst.


    Fazit:
    Ragnar Jónasson legt seinem zweiten Kriminalroman als klassisches Whodunit an einem abgeschiedenen Ort an, der noch während der Ermittlungen für einige Tage einschneit. Ari und Tómas müssen den oder die Täter ohne Unterstützung von auswärtigen Experten im Ausschlussverfahren ermitteln. Die Ermittler selbst werden mit all ihren Schwächen gezeigt und Siglufjördurs Einwohner in liebenswerter Weise dargestellt. Die passende Lektüre für einen verregneten Herbsttag - nur Thrillereigenschaften sollte man von diesem Buch nicht erwarten.

  • Lange bin ich um diesen „Thriller“ herumgeschlichen und hatte Angst. Angst, dass ich wieder so einen hanebüchenen, blutrünstigen Islandschmarrn vorgesetzt bekäme, voller Runengedöns, Altnazis und Verfolgungsjagden in Gletscherhöhlen.


    Erleichtert habe ich dann festgestellt: dieses Buch ist keine Thriller, sondern ein wunderbar altmodischer Kriminalroman. Denn ganz unverkennbar ist Agathe Christie stilprägend. Schon das Setting, eine Gruppe Menschen, von der Außenwelt abgeschnitten, muss den Mörder in den eigenen Reihen suchen, entstammt dem klassischen Kriminalroman. Auch sonst ist dieser Krimi irgendwie altmodisch: Es gibt keine Spurensicherung, die mit Hightech die vermeintlichen Tatorte untersucht, keine Gerichtsmedizin, die bei der Obduktion etwa die Frage klärt, ob überhaupt ein Verbrechen stattgefunden. Nein, hier ist der Ermittler ganz auf seine Beobachtungsgabe und seine Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen, angewiesen.
    Auch das Verbrechen selbst ist erstmal ziemlich unspektakulär: Niemand wird gekreuzigt, keiner bekommt Nazikram ins Gesicht geritzt, kein Frau wird auf unvorstellbare Weise geschändet. Nein, zunächst fällt ein steinalter Mann die Treppe runter und stirbt. Das zweite Opfer ist schon blutiger, dafür aber wenigstens (noch) nicht tot.


    Für Arni, den „Neigschmeckten“ aus Reykjavik, ist auch ohne Mordermittlung sein neues Leben in Siglufjördur nur schwer zu ertragen, zumal eine Lawine die einzige Zufahrtsstraße des Dorfes blockiert hat. Im Vergleich zu diesem von dunklen Bergen bedrängten und im Schnee versinkenden Dorf erscheint ihm Reykjavik nahezu mediterran. Satt eines Lebens in einer hippen Großstadt kommt er an einen Ort, in dem jeder die Lebensgeschichte seiner Mitbewohner bis ins Detail kennt, statt angesagter Clubs und Hochkultur in der „Harpa“ ist hier die Theateraufführung der Laienspielgruppe kultureller Höhepunkt des Jahres. Und selbst seine Freundin aus der Hauptstadt weigert sich strikt, auch nur einen Fuß in diese nordisländische Einöde zu setzen.


    In dieser fremden Welt also muss Arni einen möglichen Mord aufklären, denn seine alteingesessenen Kollegen möchten nicht glauben, dass der Sturz des alten Schriftstellers etwas anderes war als ein tragischer Unfall. Immerhin kennen sie ihr Dorf und seine Bewohner wie ihre Westentasche, und einer ihrer Nachbarn soll ein Mörder sein? Erst als ein zweites Opfer, Linda, mit schweren Schnittwunden im Schnee gefunden wird, sehen auch sie ein, dass die heile Welt ihres Dorfes vielleicht doch nicht so heil ist. Schon bald zeigt sich, dass unter der Oberfläche so allerhand Konflikte schwelen, bleibt nur herauszubekommen, welcher dieser Konflikte letztendlich zu einem Mord führte.


    Das ist durchaus spannend, allerdings ist „Schneebraut“ vom perfekten „Whodunit“ ein ganzes Stück entfernt. Zu deutlich schimmert die „Grundgerüst“ der Geschichte hindurch. Das ist zwar gut ausgedacht, aber die „Auffüllung“ dieses Gerüsts zu einem ganzen Roman wirkt an vielen Stellen etwas unbeholfen. Aber das ist wohl eine Frage der Übung.


    Ansonsten bekommt man mit diesem Buch einen sehr schönen Einblick in Freuden und Abgründe isländischen Landlebens, das hier weder verherrlicht, noch lächerlich gemacht wird. Ich habe mal ein paar Monate in dieser Ecke Islands gelebt und kenne auch Siglufjördur und kann nur sagen: das Lebensgefühl, das Ragnar hier beschreibt, kommt dem, was ich dort empfunden habe, schon sehr nahe.
    Die Auflösung beider Fälle ist überraschend, originell, aber innerhalb dieses Mikrokosmos „Siglufjördur“ absolut glaubhaft. Und das nicht zuletzt deshalb, weil sich gerade nicht alle Konflikte am Ende in Wohlgefallen auflösen, weil nicht alles glatt geht. Wie im richtigen Leben eben auch.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Ich schaffe es leider nicht, ausführlich etwas zu schreiben, nur soviel, ich las das Buch in der Neuveröffentlichung unter dem Titel "Schneeblind" und es hat mir von Anfang bis Ende sehr gut gefallen! Der Schauplatz, die vielen interessanten Charaktere, die Ermittlungsweise - wie gesagt wurde, Agatha Christie lässt grüßen :thumbup:und der introvertierte Erzählstil, alles hat mir sehr gefallen.

    Kleiner Hinweis, ein paar Formulierungen klingen befremdlich, was teilweise aber tatsächlich nur daran liegt, dass die Übersetzerin Schweizerin ist. Da gibt es ein paar Eigenarten in Satzbau und anderem, wie sie im Hochdeutschen nicht verwendet werden.


    9 von 10 Punkten und ich freue mich, dass es fünf weitere Teile in dieser Reihe gibt.

    Nicht unerwähnt lassen möchte ich die Tatsache, dass auch die rein materielle Qualität des btb-Taschenbuchs mir sehr zugesagt hat.