Wo Sherlock Holmes draufsteht, ist auch Sherlock Holmes drin
Nein, Etikettenschwindel kann man dem etablierten Schriftsteller und Drehbuchautoren Anthony Horowitz wahrlich nicht vorwerfen. Wie im Nachwort zu lesen ist, hat er über einen Zeitraum von 8 Jahren hinweg an diesem Projekt gebastelt, hat Originalquellen der viktorianischen Ära konsultiert, hat studiert und umgearbeitet, an diesem Buch gefeilt und gewerkelt. Und nicht zuletzt hat er die ausdrückliche Genehmigung des „Arthur Conan Doyle Literary Estate“ erhalten, was schon eine Auszeichnung in sich zu sein scheint.
Alle, wirklich alle Kennzeichen eines typischen Sherlock-Holmes-Abenteuers sind hier enthalten, so dass sich „alte“ Leser sofort wie zu Hause fühlen: von der Erzählperspektive über das Setting, den Plot, diverse Charaktereigenschaften, übliche Komplikationen bis hin zum Londoner Wetter. Man kann nicht umhin zu denken, dass diese Geschichte genauso vom Meister selbst hätte geschrieben werden können. Nun ja, fast zumindest. Und mit der Begründung dieser Aussage sind wir schon mitten in der Handlung.
In Klappentext und Werbung heißt es, dieser Fall sei anders, düsterer, irgendwie gefährlicher als alle vorher geschilderten Fälle. Und in der Tat, denkt der Leser, wie will es ein heutiger Autor begründen, dass er sich mehr als 80 Jahre nach dem Tod Conan Doyles an eine Fortsetzung wagt? Kann man das logisch hinkriegen, und gleichzeitig die Atmosphäre stimmig halten? Man kann. In einem prägnanten und stimmungsvollen Vorwort liefert der gute Dr. Watson, wie immer der ein wenig naive und dennoch treue Erzähler, die Begründung und Vorgeschichte zu diesem Buch gleich mit. Das ist wirklich nett gemacht: Der Fall sei damals so brisant gewesen, dass die Aufzeichnungen unter Verschluss gehalten werden mussten. Erst 100 Jahre nach seinem, Watsons, Tod seien sie aus dem Bankschließfach zu entnehmen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Lustigerweise, wenn man anhand der alten Geschichten nachrechnet, fallen diese 100 Jahre genau mit der tatsächlichen Veröffentlichung des Buches in unserer Zeit zusammen. Man merkt also, Autor und Verlag haben sich wirklich Gedanken gemacht. So konnte sowohl der damalige, viktorianische Erzählstil beibehalten, als auch die späte Veröffentlichung begründet werden. Es gibt so gut wie keine Stilbrüche, keine Diskontinuitäten (die wenigen Ausnahmen bespreche ich später), und doch ist der Fall auch aus heutiger Sicht lesbar.
Wie üblich, wird ein unangemeldeter Besucher in die Wohnung in der Baker Street 221b geleitet. Ein angesehener Kunsthändler fühlt sich von einer ominösen Person verfolgt. Dieses Motiv hatte man schon öfter, und in der Tat wird der Faden bewährt weitergesponnen.
Wie sich alsbald herausstellt, hat die Angelegenheit mit einem fehlgeschlagenen Kunsthandel und damit verbundenen Todesfällen in Boston zu tun. Doch das raffinierte an diesem Buch ist, dass ein zweiter Strang mit dieser vordergründigen Handlung verknüpft wird. Der angebliche Verfolger wird alsbald tot aufgefunden, und kurz darauf verschwindet ein Straßenjunge, der zu seiner Observierung abgestellt war. Sherlock Holmes ist bald klar, dass er – ganz unerwartet – auf viel mehr gestoßen ist als diesen verunglückten Kunsthandel. Die weiteren Nachforschungen stellt er auf eigene Gefahr an, gerät in diverse, teils tödliche, Fallen, muss mehrfach entkommen, und deckt schließlich in einem packenden Schlussteil gemeinsam mit Watson die wahren Hintergründe auf. Und die sind, so viel sei verraten, für die damalige Zeit wirklich ungeheuerlich. Wir in der heutigen Zeit sind solche Verbrechen, solche Manöver, solche Widerwärtigkeiten – leider – gewöhnt. Daher mutet es kurios, aber passend an, dass Watson schon damals gemeint haben soll, in 100 Jahren könne viel eher über diese Dinge gesprochen werden…
Doch nun zu den Besonderheiten dieses Buches. Die Handlung ist spannend, ja, genau so wie sie in einem solchen Abenteuer sein soll. Watson ist naiv, Holmes brillant, viele Zeugen verkniffen, und die Polizei natürlich zu dämlich. Doch man merkt unbedingt, dass hier ein Drehbuchschreiber am Werk war! Anthony Horowitz hat u.a. Drehbücher für die beliebten „Inspector Barnaby“-Krimis verfasst, und das hat auf seinen Schreibstil ungemein abgefärbt.
Fast hat man den Eindruck, das Buch bestehe nur aus Dialogen. Zumindest aber zu mehr als zwei Dritteln. Glücklicherweise hat er sich aber an den damaligen Sprachduktus gehalten, und zum großen Teil auf lästige sogenannte „Redebegleitsätze“ verzichtet. Erzählende, berichtende Abschnitte gibt es immer nur dort, wo es gerade passt: bei einer Kutschfahrt, einer Verfolgung, oder am Anfang und Ende eines Kapitels. Überhaupt muss ich zu den Kapitel-Enden anmerken, dass sie immer mit einem Knalleffekt, meist sogar mit einem Cliffhanger, aufwarten. Die Kapitel sind genau portioniert geschrieben, und immer auf einen Effekt hin. Das erzeugt einen nicht unerheblichen Sog nach vorne.
Die Schreibweise, und das Voranschreiten des abwechslungsreichen Plots, sind schon sehr „szenisch“, so als seien sie fürs Fernsehen verfasst worden. In der Tat kann ich mir eine Verfilmung gut vorstellen. Es gibt immer, hübsch aufgeteilt, genau eine Komplikation, eine neue Entwicklung pro Kapitel. Immer genau eine offene Frage im letzten Satz. Und mindestens ein Punkt, den Watson nicht versteht. Das würzt und belebt.
Gewundert hat mich ein wenig, dass der sonst immer so verhasste Inspector Lestrade in diesem Buch vergleichsweise gut wegkommt. Er freundet sich fast mit Watson an, während Holmes im Gefängnis sitzt. Und ausnahmsweise ist er am Ende rechtzeitig zur Stelle.
Sehr lustig fand ich, wie etliche Kennzeichen der damaligen Zeit, die sich heute ganz anders darstellen, veralbert werden. Der Auftraggeber von Holmes ist Kunsthändler, und es ist schon sehr witzig zu verfolgen, welche Bilder er warum vertreibt, was gerade „en vogue“ ist, und welche Maler damals noch völlig unterschätzt werden. So kauft der Händler nur widerstrebend einige Werke von Whistler, und meint, davon werde man ja seekrank… (Heute ist Whistler ein Vermögen wert.) Und über die französischen Maler, die damals gerade erst bekannt wurden, sagt der Händler, ihre Bilder seien ja wenig mehr als „Impressionen“ – genau der Titel, den die ganze Kunstrichtung dann auch bekommen hat! Ich habe schon sehr geschmunzelt. Ferner bezieht sich der Roman auch auf etliche Entwicklungen aus Technik und Kultur, sowie ganz gegen Ende Methoden der Erpressung, die heute verbreitet sind – damals aber noch misstrauisch beäugt wurden. Mich hat beeindruckt, wie viele Gedanken sich der Autor um die historische Einordnung gemacht hat!
Was mich aber wirklich stutzen lässt, ist oftmals die Sprache – wobei ich gerne zugeben will, dass dies der Übersetzung geschuldet sein mag. Manches Mal sind mir einige Sätze zu flapsig für die damalige Zeit; hier hätte ich gerne den Originaltext studiert. Ein definitiver Stilbruch ist auch enthalten: An einer Stelle sagt Watson, Holmes arbeite wie ein „Roboter“. Ähem, Roboter gab es 1890 wohl kaum… der Begriff wurde erst Mitte des letzten Jahrhunderts gebräuchlich.
Und ein paar offensichtliche Übersetzungsmacken möchte ich auch erwähnen. In London gibt es eine berühmte Straße, „The Strand“. Dies dann im Deutschen nicht als Eigennamen kenntlich zu machen, und einfach mit deutschem Artikel „der Strand“ stehen zu lassen, halte ich für sehr, sehr unglücklich! „Die Kutsche hielt am Strand“… mitten in London?? Das mindeste wäre doch wohl gewesen, das Wort „Strand“ kursiv zu setzen, so dass dem Leser klar wird, dass es sich um einen Eigennamen handelt. Und dieser Fehler kommt drei Mal (!) im ganzen Buch vor!
Mehrere Redewendungen wurden wörtlich übersetzt, die es im Deutschen so nicht gibt. Wie gegen Anfang die „Fantasien bei Mondlicht“. Hier hätte doch wohl eine sinngemäße Übersetzung bessere Dienste geleistet! Und erst der völlig unverständliche Ausruf „Das Wild ist auf.“ Wie bitte?! Das Original lautete wohl „The game is up“… Es stimmt zwar, dass „game“ auch mit „Wild“ übersetzt werden kann, aber das macht doch hier überhaupt keinen Sinn! Es hätte meiner Meinung nach heißen müssen „Die Jagd beginnt“ oder „Das Spiel geht los“ – also auch hier wäre eine eher figurative Übersetzung die bessere gewesen.
Insgesamt gesehen, ist es mir schwer gefallen, mich zwischen acht und zehn Punkten für das Buch zu entscheiden. Atmosphärisch ist es absolut top, keine Frage, und auch die Spannung lässt kaum Wünsche offen. Dennoch, die beschriebenen sprachlichen Macken haben mein Lesevergnügen ein wenig getrübt. Auch hatte ich nicht erwartet, dass der Fall ganz nach bewährtem Strickmuster gelöst wird. Ich hätte eher eine Verfremdung oder Neudichtung des Sherlock-Holmes-Mythos erwartet. Doch ich will nicht zu schwarz malen. Immerhin hatte ich das Buch in kürzester Zeit gelesen, und habe mich prächtig an frühere Leseerfahrungen erinnert gefühlt. Ich entscheide mich also mit relativ gutem Gewissen für acht Punkte.