Gestern in Babylon habe ich dich nicht gesehen – Antonio Lobo Antunes

  • Luchterhand Literaturverlag
    Gebundene Ausgabe: 544 Seiten


    Originaltitel: Ontem Não Te Vi Em Babilónia
    Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann


    Kurzbeschreibung:
    Der neue Roman des weltberühmten Schriftstellers beschwört eine Nacht herauf, in der niemand schläft – eine Nacht, in der alles möglich ist, eine Nacht voller Stimmen und voller Einsamkeit.
    Nachts träumen die Menschen ihre Geschichten. Die Dämonen werden übermächtig, die Ängste unbezwingbar, die Sehnsüchte riesengroß. In der Nacht, um die Lobo Antunes’ neuer Roman kreist, liegen die Menschen wach, in Lissabon, Évora und Estremoz, und denken über ihr Leben nach oder das, was sie dafür halten. Ihre Stimmen verbinden sich zu einer geheimnisvollen Geschichte, erzählen von leidenschaftlicher Liebe und grausamen Taten, erzählen von Portugal und von unserer Zeit.


    Zwei Ehepaare, eine Tochter, Verwandte und Kollegen, Kriminalpolizisten – sie alle sind in eine Geschichte verstrickt, in der es um Betrug, Verrat und Verschweigen geht, vielleicht sogar um Mord. Und neben ihrer jeweils eigenen Version erzählen sie auch von sich, von ihren Kindheitserinnerungen, ihren Versehrungen und unerfüllten Träumen. So setzt sich allmählich ein schillerndes Mosaik zusammen, das die stille Nacht der Einsamkeit jedes Einzelnen und die Nacht eines Landes zeigt, im Grunde die Nacht in uns allen.


    Über den Autor:
    António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkrieges 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile zwanzig Titel umfasst und in über dreißig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den "Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes", den "Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur", den "Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft" und zuletzt 2007 den Camões-Preis.


    Über die Übersetzerin:
    Maralde Meyer-Minnemann, geboren 1943 in Hamburg, erhielt 1992 den "Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen", 1997 den Preis "Portugal-Frankfurt", 1998 den "Helmut-M.-Braem-Preis" und wurde 2005 für den "Preis der Leipziger Buchmesse" nominiert.



    Mein Eindruck:
    Antunes Prosa verfügt über einen großen literarischen Reichtum, der in einem Überschwang über den Leser kommt, gleichzeitig aber radikal auf das wesentliche reduziert ist.
    Außerdem kennzeichnen sich Antunes Texte stets durch eine beklemmende Düsterheit aus, die immer mit der politischen und geschichtlichen Vergangenheit Portugals zusammenhängen.
    Das trifft auch auf „Gestern in Babylon habe ich dich nicht gesehen“ in hohem Maße zu.


    Thematisch wird das unbewältigte der portugiesischen Nelkenrevolution behandelt, mit den Taten der Geheimpolizei PIDE.
    Das Lesen des Buches ist nicht einfach, da die Gedanken verschiedener Personen in einer Nacht erzählt werden, Es gibt anscheinend zwei wesentliche Handlungsorte, in Lissabon und in Evora.
    Die Namen der Menschen in dem Buch werden mit wenigen Ausnahmen nicht genannt, so dass sich der Leser an verschiedene, sch wiederholende Schlüsselsätze orientieren muss: z.B. Ana Emelia; Ohrringe= Lissabon „Hörst Du die Steineiche nicht“; Hunde = Evora
    Es kommen auch Gedanken von ein paar anderen dazu.


    Offenbar hat der eine ehemalige Geheimpolizist einen anderen aufgesucht, ihn gezwungen Frauenkleider und Ohrringe zu tragen und ihn dann umgebracht.
    Diese lange zurückliegende Tat ist unvergessen.


    Manche (wenige) inhaltlichen Zusammenhänger ergeben sich mit der Zeit, andere bleiben unklar (jedenfalls mir). Vieles bleibt fragmentarisch.
    Kritisch muss man daher sagen, dass Antunes seinen experimentellen Stil hier unnötig ins Extrem getrieben hat. Über manche Seiten lang bleibt man als Leser manchmal ratlos. Möglicherweise ein Problem für Leser, die den Anspruch haben, alles verstehen zu wollen.
    Andererseits ist Antunes wirklich einer der letzten ganz großen Autoren, die literarisch wirklich etwas wagen.
    Da die Hauptfiguren in den Taten des Geheimdienstes Portugals involviert waren, sind ihre Gedanken teilweise von Schuld und Angst geprägt und man bleibt als Leser zu ihnen auf Distanz.


    Die Gedanken werden nicht linear erzählt, abgesehen davon, dass die 6 Teile des Romans den Stunden Mitternacht bis 5 Uhr morgens zugeordnet sind.
    Oft reißen Sätze mitten im Gedanken ab, die Erzähler schwenken ab in andere Erinnerungen. Zwischen den Schilderungen der Gegenwart sind auch immer die Erinnerungen an die Vergangenheit wach und werden in diversen Satzfetzen zwischengeschaltet.


    Wie es in der Musik Klangfarben gibt, sind diese auch in Antunes Sätzen zu spüren. Getragen sind sie von einer Melancholie.
    Es entsteht eine sprachliche Musikalität, die sicher nicht leicht zu übersetzen war und im Original vielleicht manchmal schlüssiger sein wird. Dennoch eine imponierende Leistung der Übersetzerin.


    ASIN/ISBN: 3442717493