Tod in Paris. Die Leichen der Seine 1795-1801 - Richard Cobb

  • Was auf den ersten Blick etwas reißerisch daher kommt, ist eine kleine Kulturgeschichte der unteren Pariser Schichten während der Französischen Revolution, etwa zwischen der Hinrichtung Robbespierres und der Machtübernahme Napoleons.


    Cobb war Historiker mit Schwerpunkt Französischer Revolution, dennoch ist „Tod in Paris“ alles andere als ein dröges Geschichtsbuch, denn er betreibt Geschichtsschreibung von unten. Dabei bedient er sich zweier Hauptquellen. Zum einen sind da die Protokolle des Leichenschauhauses Basse-Geôle, dem Vorgänger der berüchtigten Morgue, über nicht natürliche Todesfälle zwischen 1795 und 1801, in denen der Friedensrichter und seine zwei Gehilfen Bouille und Daude, akribisch alles zu diesen Todesfällen niederschrieben, 405 an der Zahl. Zum anderen bezieht er sich auf die Berichte eines gewissen Nicolas Edme Restif, der in besagter Zeit durch das finstre Paris strich und seine Beobachtungen in 16 Bänden veröffentlichte.


    Diese beiden Quellen nutzt Cobb also, um ein Sittengemälde dieser Gesellschaft rund um die Cité zu zeichnen. Dabei geht es ihm gar nicht darum, einzelne Schicksale zu schildern oder die (erstaunlich wenigen) Morde aufzuklären, vielmehr lässt er anhand der Protokolle und der Berichte die Lebenswelt der Armen wiedererstehen. Was war das für eine Gesellschaft, in der sich 207 Menschen meist in der Seine ertränkten, damals eine ungeheuerliche Sünde. Vereinsamung oder komplette Verarmung im Alter, die fürchterlichen Zustände in den Armen- und Invalidenhäuser, verlorene Ehre oder hoffnungslose Liebe, vieles ist denkbar. Aber auch den Gründe für die vielen Unfälle an der Seine liefern Puzzlestückchen für dieses Gesellschaftsbild, den lebensgefährliche Arbeitsbedingungen, unter denen die Armen ihr Geld verdienen mussten, aber auch die gefährlichen Vergnügungen jener Zeit, in der so mancher Bursche beim Baden ertrinkt.

    Doch ganz unabhängig von den Einzelschicksalen, bieten die Protokolle auch Einblicke in den damaligen Alltag: welche Kleidungen trugen die Menschen, was arbeiteten sie, wie war ihr persönliches Umfeld. Überraschenderweise ist es nicht nur Hoffnungslosigkeit, Armut und Einsamkeit, nein, es herrschte auch ein soziales Netzwerk, das Leben war beengt, aber genau deshalb nicht anonym oder ohne soziale Bande. Das belegt schon alleine die Tatsache, dass die allermeisten unbekannten Toten sehr schnell identifiziert werden konnten.


    Doch das Faszinierendste ist eigentlich die Normalität, die zeitlose Menschlichkeit dieser Leben, die vielleicht ihre eigenen Tragödien haben, aber so völlig unbeeindruckt vom weltpolitischen Geschehen sind.
    "Die Revolution hatte dem einfachen habitant de garni nichts zu bieten, sie ging einfach an ihm vorbei"
    Die Welt ist vorgeblich aus den Fugen geraten und in einem Kontor an der Seine wird penibel das Ableben von Wäscherinnen, Tagelöhnern und kleinen Jungs dokumentiert.


    Das Buch ist in einem etwas altmodischen, aber dennoch sehr angenehmen Gelehrtendeutsch verfasst (was auch daran liegen kann, dass das englische Original bereits 1976 erschien). Wie die Menschen treibt die Schilderung durch die Gassen, wiederholt sich manchmal, widerspricht sich auch, aber genau darum entsteht ein beeindruckendes Gesamtbild. Allerdings musste ich dann doch nochmal „Les grandes dates de l'histoire de France“ zur Hand nehmen, um einige Geschehnisse einordnen zu können. Die Datierung mittels des Republikanischen Kalenders war etwas gewöhnungsbedürftig (obwohl Monatsnamen wie Brumaire oder Thermidor großartig klingen) oder die Toten trugen Kleidungsstücke und Stoffe, unter denen ich mir rein gar nichts vorstellen. In Zeiten von Wiki stellt das aber das kleinste Problem da.


    Erwähnt sei hier noch die tolle Ausstattung des Buches, in Leinen gebunden und mit sehr ansprechenden Satzspiegel. Die Fußnoten mit Zitaten aus den entsprechenden Protokollen sind als Kästchen am Außensteg eingefügt, wodurch sie sich ungezwungen in den Lesefluß „einbauen“ lassen. Alle anderen, durchaus lesenswerten Fußnoten befinden sich im Anhang. Der wiederum ist umfangreich, mit Statistiken, Erklärungen des republikanischen Kalenders und Abdrucken besonders interessanter Protokolle.


    Insgesamt ist dieser Band also ein wunderschönes Buch, dass sich einem ungewöhnlichen Thema auf noch ungewöhnlichere Weise nähert. Spannend!


    Über den Autor
    Richard Cobb, geboren 1917, gestorben 1996, lehrte modern history an der University of Oxford, nachdem er 15 Jahre ohne universitäre Anbindung in französischen Archiven verbracht und in Frankreich seine ersten Bücher publiziert hatte. Er war Spezialist für die französische Geschichte der Revolutionszeit und Mitglied der französischen Ehrenlegion.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von DraperDoyle ()

  • Auf was für Schätze man manchmal dank den Eulen stößt...Das Buch klingt sehr interessant und lesenswert Draper, ich danke Dir für die tolle Rezi! :-)

  • Ich kann mich der Begeisterung von DraperDoyle nicht so anschliessen. Es ist ein wunderschönes Buch und das Thema auch interessant. Aber nach der Hälfte war es für mich nicht mehr so spannend, da sich doch einiges wiederholt und ich nach zwei Seiten lesen immer müde wurde. Vielleicht ist es aber einfach auch kein Buch für mich.