OT: Maïté Coiffure 2004
übers. von Tobias Scheffel
Louis hat ein Problem. Genau besehen hat er zwei, aber Nummer eins ist das vordringliche. Er soll nämlich ein Praktikum machen. Kaum hat er das am häuslichen Mittagstisch der Familie Feyrières verkündet, zeigt sich auch schon das zweite Problem mit aller Macht. Das ist Dr. Feyrières, Louis Vater. Er ist Chirurg, gibt viel auf seinen Stand und setzt sich immer durch. Praktika sind neumodischer Kram, und ganz sicher nichts für seinen Sohn, Punkt. Allerdings ist es Louis, der das der Lehrerin beibringen soll. Rettung bringt Großmama, die ein Praktikum bei ihrem Friseur vorschlägt. Dr. Feyrières konnte seine Schwiegermutter noch nie leiden und nun weiß er wieder genau, warum. Bloß ist da die Anweisung der Lehrerin und der Schule.
Widerstrebend, vom Feind umzingelt, beäugt Louis schließlich Großmamas Friseursalon Bei Marielou. Gegen seinen Willen ist er fasziniert und eher er es richtig begreift, steht er schon im Laden. Es dauert eine gute Weile, ehe er begreift, daß er nicht nur einen Praktikumsplatz sondern sein Lebensglück gefunden hat. Leider steht dem allerhand entgegen, an erster Stelle Dr. Feyrières, aber auch jede Menge Vorurteile gegenüber dem Friseurberuf.
Während Louis in die Welt von Madame Marielou, Fifi (Philippe), Clara und der unwilligen Auszubildenden Garance eintaucht, muß er gleichzeitig gegen Standesdünkel und Vorurteile kämpfen. Friseur ist kein richtiger Beruf, heißt es etwa, das sind keine feinen Leute, Friseure sind schwul (okay, Fifi ist es wirklich). Der Vater-Sohn-Konflikt bricht auf, auf brutalste Weise.
Aber auch das Personal des Salons hat so seine Schwierigkeiten und der Friseurberuf hat Bereiche, die weit über hübsche Löckchen, Haarspray und Makeup hinausgehen. Louis macht Erfahrungen, mit denen er nie gerechnet hätte. Die Leserin übrigens auch nicht. Und natürlich kämpft unser jugendlicher Held bald auch mit den Regungen der Liebe und den Folgen des Geliebtwerdens.
Murail hat ihr Thema wieder einmal auf ihre ganz besondere Art aufbreitet. Tatsächlich hat sie ein Märchen geschrieben, nicht den neuerlichen Jugendroman vom Erwachsenwerden oder den neuerlichen Roman über einen Jungen, der sich von seinem Vater emanzipert. Es ist auch kein Jugendroman über die Folge von dummen Vorurteilen. All das ist trotzdem in der Geschichte enthalten, dazu nicht wenige gute Gedanken über Geschlecht, Geschlterrrolen und ihre Wahrnehmung. Es gibt Überraschungen und Verrücktheiten, Murail spielt souverän mit Klischees. Sie hat einen sehr speziellen, schrägen Blick auf die Dinge. Es gibt eine Menge Rätsel, die Figuren sind in typisch Murailscher Art überzeichnet und lebensecht zugleich. Der Epilog ist ganz unerwartet, aber schlüssig. Warum soll man immer am Beginn von etwas Neuem stehen bleiben? Ein richtig großes Ende ist auch etwas Schönes. Besonders bei einem Märchen.
Gestört hat mich nur, daß Madame Maïté für die deutsche Ausgabe in ‚Marielou’ umbenant wurde. Was soll das? Wenn junge Leserinen und Leser ‚Garance’ lesen können, können sie wohl auch ‚ Maïté’ lesen?