OT: Zero at the Bone 1996
Cray, ca. 16, und seiner Familie geht es gut. Der Vater hat eine eigene Fabrik für Holzmöbel, die Mutter kümmert sich um Haus, Garten, seltene Pflanzen und sammelt Fossilien, Crays etwas ältere Schwester Anita ist eine ausgezeichnete Schülerin, sehr begabt, hat viele Freunde und auch noch einen Job, um ein wenig Geld zusätzlich verdienen. Der Himmel leuchtet blau über ihnen.
Eines abends aber kommt Anita nicht nach Hause. Es wird spät und später, die Eltern reagieren gereizt, dann verärgert. Dann beginnt die Suche. Anita kommt auch in den folgenden Tagen nicht zurück. Cray und seine Eltern müssen sich damit auseinandersetzen, daß Anita verschwunden ist und zwar spurlos. Gleich, was sie unternehmen, sie ist nicht aufzufinden.
Die Situation bringt die Familienmitglieder dazu, sich mit Anita zu beschäftigen. Allmählich wird ihnen klar, daß sie das zum erstenmal tun. Die älteste Tochter, die eigene Schwester hat bei ihnen gelebt, aber sie haben sie nicht gut gekannt. Auch sich selbst und die jeweils anderen haben sie nicht gekannt. Tatsächlich haben die Familienmitglieder nebeneinander gelebt, aber nicht miteinander. Was sie für ‚Familie’ gehalten haben, war am ehesten eine WG gut versorgter Einzelpersonen, die sich vormachten, daß es keine Probleme gibt und ihre Sorgen, wenn sie sie überhaupt aufkommen ließen, mit sich selbst abmachten. Das Leid, das sie durch Anitas Verschwinden plötzlich tragen müssen, trifft sie mit böser Wucht.
Cadnum schont seinen Figuren nicht. Er erzählt hochspannend von den schrecklichen Auswirkungen, die es hat, wenn ein Mensch, den man geglaubt hat, gekannt zu haben, plötzlich verschwindet. Zorn, Trauer, Haß und Selbsthaß, Hoffnung und Resignation, Beschuldigungen und Schuldgefühle, Cray und seine Eltern machen alles durch. Sie verändern sich, nicht unbedingt linear, nicht unbedingt zum Positiven oder Negativen, sie werden einfach anders. Sie bewegen sich auseinander und wieder aufeinander zu, Cadnum fängt die Bewegungen ein.
Die Geschichte ist grausam, konsequent bis zum Ende.
Geschrieben ist sie äußerst sorgfältig, ebenso sorgfältig ist sie aufgebaut. Erklärt wird nichts, man wird mitten ins Geschehen geworfen. Ich-Erzähler ist Cray, er ist eher verschlossen, mißtrauisch, auch gegenüber den eigenen Wahrnehmungen. Zugleich ist er spontan und intuitiv, schon die Eingangsszene, ein Feuer in der Möbelfabrik, zeigt ihn mit aller Präzision, zu der ein guter Autor fähig ist, und wirft zugleich Schlaglichter auf die anderen Familienmitglieder und ihre Verhaltensweisen. Cadnum ist überdies ein Meister darin, etwas ganz leise und sachlich zu sagen, das erst viele Seiten später seine eigentliche Wirkung entfaltet und dann schonungslos. Nicht wenige Beobachtungen schmerzen die Leserin ebenso stark, wie die fiktiven Menschen im Buch.
Spurlos ist ein Psychodrama, ob es eine Tragödie ist, also Anitas Verschwinden nicht vermeidbar war, muß man selbst entscheiden. Das ist nur eine Folge dieses Jugendromans, der nachdrücklich in Erinnerung bleibt. Unvergeßlich auch der Abschluß, der einer im Hals stecken bleibt und der wahrscheinlich dazu beigetragen hat, daß das Buch rasch unterging. Cadnum ist logisch, aber zu unkonventionell.
Einmaliges Leseerlebnis, ein echtes Juwel, mit tödlich scharfen Kanten.