Die Nachtflüsterin - Angie Westhoff (ab 10 J.)

  • Es war der Titel. Ich fand ihn unirdisch blöd (daran hat sich nichts geändert). Die Buchhändlerin meinte, Kinder würden ihn wahnsinnig aufregend und geheimnisvoll finden. Nun bin ich nicht mehr elf, aber sei’s drum. Ich habe das Buch des Titels wegen gekauft.


    Die Heldin mit der merkwürdigen Tätigkeit des Nachflüsterns ist Wally Vanderbeck. Sie ist ein Waisenkind, den Vornamen bekam sie, weil ausgerechnet Schwester Walburga sie aus der Babyklappe geholt hatte, den Nachnamen hat sie sich selbst gegeben. Überhaupt ist Wally sehr dafür, selbständig etwas zu unternehmen. Das macht sie ein bißchen einsam unter den anderen Kindern und, das ist schlimmer, zur Zielscheibe böser Streiche der angesagtesten Gruppe, bestehend aus Trischa, Nuriel und Malle. Zu Beginn der Geschichte sind die drei auch gleich auf dem Kriegspfad gegen Wally. Nachts.
    Mit knapper Not kriegt Wally noch die Kurve, um dem Unheil auszuweichen, aber schön findet sie das Leben nicht zur Zeit. Sie träumt intensiver denn je davon, ihre Eltern wiederzufinden. Wally ist nämlich überzeugt davon, daß sie nur versehentlich im Waisenhaus St. Quentin gelandet ist.


    Sie ist aber nicht die einzige, die Probleme hat. Da gibt es auch noch den sehr seltsamen etwa gleichaltrigen Jakob und das kleine Zwillingspaar Robin und Sina. Bei einer weiteren Wanderung durchs nächtliche St. Quentin treffen die Kinder zusammen. Der Zufall will es, daß Wally eine erfundene Geschichte erzählt. Am nächsten Tag aber steht exakt diese Geschichte in der Zeitung. Jakob, der zunächst glaubt, daß Wally die Geschichte gar nicht erfunden hat, sondern irgendwo gelesen, muß sich eines Besseren belehren lassen. Was in der Zeitung steht, konnte Wally gar nicht wissen, die Neuigkeit war absolut neu.


    Das gleiche passiert kurz darauf ein zweites Mal. Wally erzählt nachts eine Geschichte und am nächsten Tag wird sie wahr. Die dritte Geschichte auch. Und nun stellen die Kinder ihr Glück auf die Probe. Wally erzählt, daß sie ihren Vater finden wird und genau nach der Geschichte machen sich die Freunde auf die Suche.
    Inzwischen aber hat auch Trischa vom Wallys ‚Talent’ gehört und versucht, es für ihre Zwecke auszunützen. Sie hat auch Wünsche, nun muß sie nur Wally dazu bringen, sie ihr in einer Geschichte zu erfüllen. Um das zu erreichen schreckt Trischa vor keinem miesen Trick zurück. Bald geht es richtig rund in St. Quentin.


    Erzählt ist das alles sehr munter und hübsch verwickelt, so daß die Geschichte lange Zeit sehr spannend bleibt. Vom nächtlichen, mit geheimnisvollen Gegenständen gefüllten Speicher über die Märchen aus Tausend und einer Nacht, einer Waisenkinder-Schnulze bis hin zum Gezicke unter Mädchen in den Fängen erster Teenager - Wallungen finden junge Leserinnen alles, was das Herz begehrt. Die Kinder handeln selbständig, sie sind nicht immer nett, sie geraten in fein ausgedachte Klemmen. Wallys Schimpfwörter-Repertoire ist beispielhaft und sie darf sie lustvoll äußern. Es gibt schöne Überraschungen bei Alltagssituationen, von denen Kinder träumen (und nicht nur sie). Die Frage, wie es denn kommt, daß Wallys Geschichten immer wahr werden, ist ein fantastischer Köder, der zum Weiterlesen treibt, selbst wenn einer schon die Augen zufallen.


    Gleichzeitig hat die Geschichte einige Plattheiten zuviel, nicht zuletzt einen Alibi-Türken, überhaupt hat sie ein bißchen zuviel von allem. Junge Leserinnen und Leser wird es wenig stören. Die Auflösung von Wallys Talent ist mit einem Augenzwinkern geschrieben, auch wenn sie ein wenig hakt. Was die Freude ernsthaft trübt, ist Wallys Familiengeschichte. Das Verhalten ihrer Mutter ist im Schmalztopf auf Uromas hinterstem Speisekammerregal anzusiedeln, und für ein heutiges Kinderbuch nicht zu tolerieren.
    Womit das Buch nicht nur einen unirdisch blöden Titel, sondern auch eine unirdisch blöde Lösung der Probleme der sehr sympathischen Hauptfigur für sich beanspruchen kann.
    Schade.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Es war der Titel. Ich fand ihn unirdisch blöd (daran hat sich nichts geändert). Die Buchhändlerin meinte, Kinder würden ihn wahnsinnig aufregend und geheimnisvoll finden. Nun bin ich nicht mehr elf, aber sei’s drum.


    Ach was...... :rofl :rofl :rofl :rofl :rofl


    Herzlichen Dank für diese Buchvorstellung. Hört sich auch trotz deiner Einschränkungen nicht uninteressant an. Den Titel werde ich in jedem Falle mal im Auge behalten. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • @TiliaSalix


    Es wird ein Festessen.
    :lache



    Mich hat einiges gestört, es ist schon sehr konventionell. Die Autorin soll Jg. 1965 sein, sie ist deutlich von der Kinderbuchliteratur der sechziger Jahre und älter geprägt. Das muß nicht per se schlecht sein. Andererseits ist Klopp ja nicht eben der Vertreter für progressive Kinderbücher.


    Das Verhalten der Mutter ist aber atemberaubend. Dazu muß eine nicht einmal Feministin sein. Es ist einfach nur ...
    Du wirst es sehen.


    Ansonsten viel Spaß damit, man kann ihn durchaus haben bei der Lektüre.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Zitat

    Original von Tilia Salix


    Ne, nur Männer! :schnellweg


    Mädels!!!!! :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • So, ich habe das Buch nun auch beendet und ich komme - für mich selbst etwas überraschend - zu einem anderen Schluss als magali. Also, was das Ende betrifft. Ansonsten schließe ich mich ihr an, die Geschichte ist spannend und fantasievoll erzählt und lockt 11jährige definitiv zum Lesen (Zitat Tochter: Oh, das klingt gut, das lese ich. Antwort Mutter: Falsch, das lese ich - ihr seht, ich bin eine Rabenmutter, die ihr Kind bewusst vom Lesen abhält ;-))


    Aaaaber das hier sehe ich ganz anders:


    Zitat

    Original von magali
    Gleichzeitig hat die Geschichte einige Plattheiten zuviel, nicht zuletzt einen Alibi-Türken, überhaupt hat sie ein bißchen zuviel von allem. Junge Leserinnen und Leser wird es wenig stören. Die Auflösung von Wallys Talent ist mit einem Augenzwinkern geschrieben, auch wenn sie ein wenig hakt. Was die Freude ernsthaft trübt, ist Wallys Familiengeschichte. Das Verhalten ihrer Mutter ist im Schmalztopf auf Uromas hinterstem Speisekammerregal anzusiedeln, und für ein heutiges Kinderbuch nicht zu tolerieren. Womit das Buch nicht nur einen unirdisch blöden Titel, sondern auch eine unirdisch blöde Lösung der Probleme der sehr sympathischen Hauptfigur für sich beanspruchen kann.
    Schade.


    Da die Geschichte in einer (heutigen!) Großstadt spielt, fällt der türkische Friseur nicht unbedingt negativ auf, im Gegenteil, er fügt sich gut ins Konzept des Buches, in dem die Autorin ganz bewusst die Realität, wie Kinder sie aus ihrem Alltag kennen, gegen die fantastischen Elemente (Wallys wahr werdende Geschichten) ausspielt. Daher habe ich Hakan keinesfalls als "Alibi-Türken" empfunden. Andere Winkelzüge der Autorin fand ich da schon deutlich platter (diese fürchterliche Schwarz-Weiß-Malerei bei den Erziehern und Kinder zum Beispiel).
    Die Handlungsweise der Mutter passt hervorragend zum märchenhaft-verträumten Grundton der Geschichte - natürlich würde heute kein Erwachsener ernsthaft so handeln, aber es wirkt auf mich nicht wie ein Versatzstück aus dem Groschenroman meiner Oma, sondern es greift eben Motive aus Märchen auf, und fügt sich damit nahtlos in die Geschichte ein.


    Mit hat's gut gefallen, selbst wenn die Sprache manchmal etwas betulich daher kam und vor allem Wallys Gegenspieler gerne etwas dreidimensionaler hätten ausfallen können, daher: Leseempfehlung!

  • Tilia Salix


    zum Alibi-Türken: der hätte mich weniger gestört, wenn mehr seiner Sorte aufgetreten wären. Und nicht bloß Türken. Der Alltag von Kinder heute ist durchaus multi-national geprägt. Aber er ist der einzige, bei dem darauf hingewiesen wird, daß er Türke ist. Sie hätte es auch einfach weglassen können und nur 'Hakan' schreiben.
    Ihn als Hinleitung zu den Erzählungen aus 'Tausend und einer Nacht' zu benutzen, ist auch heikel. Sei's drum. Ich habe in dem Punkt einfach nur das Herumhantieren mit Requisiten gesehen, um Alltag vorzuspiegeln.


    Dein Argument bezüglich des Verhaltens von Wallys Mutter ist nicht schlecht. Denn die Geschichte arbeitet mit märchenhaften Elementen und zwar in nicht unbeträchtlichem Maß.
    Aber: sie werden realistisch aufgelöst. Das eigentlich Fantastische ist ein Ergebnis von Faktoren des ganz normalen Lebens.
    Vor diesem Hintergrund wird das Verhalten der Mutter nicht zum Märchenelement, sondern zum Versatzstück einer leider sehr realen Mutter-Verkitschung, einer Sentimentalisierung unangenehmster Art.
    Deswegen möchte ich so etwas lieber nicht in heutigen Kinderbüchern.


    Ich wiederhole: Dein Argument mit dem Märchenmotiv ist zunächst mal ein gutes und trägt durchaus ein Stück weit. Daran hatte ich tatsächlich nicht gedacht.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    [Hakan] als Hinleitung zu den Erzählungen aus 'Tausend und einer Nacht' zu benutzen, ist auch heikel.


    Ja, das hat mir auch nicht ganz so gut gefallen, weil's im Grunde völlig überflüssig war.


    Zitat

    Original von magali
    Dein Argument bezüglich des Verhaltens von Wallys Mutter ist nicht schlecht. Denn die Geschichte arbeitet mit märchenhaften Elementen und zwar in nicht unbeträchtlichem Maß.
    Aber: sie werden realistisch aufgelöst. Das eigentlich Fantastische ist ein Ergebnis von Faktoren des ganz normalen Lebens.
    Vor diesem Hintergrund wird das Verhalten der Mutter nicht zum Märchenelement, sondern zum Versatzstück einer leider sehr realen Mutter-Verkitschung, einer Sentimentalisierung unangenehmster Art.
    Deswegen möchte ich so etwas lieber nicht in heutigen Kinderbüchern.


    Durch den Epilog wird diese Auflösung zum Teil aber wieder aufgehoben. Das, was nach der Lektüre im Leser nachklingt, ist eben dieser letzte Dreh - dieses "also doch?" - was für mich das Märchenhafte noch einmal betont. Zudem wird das Verhalten der Mutter nicht wirklich glorifiziert (allerdings auch nicht kritisch betrachtet, da hast du recht), da gibt es wirklich Gruseligeres auf dem aktuellen Buchmarkt, fürchte ich.