Es war der Titel. Ich fand ihn unirdisch blöd (daran hat sich nichts geändert). Die Buchhändlerin meinte, Kinder würden ihn wahnsinnig aufregend und geheimnisvoll finden. Nun bin ich nicht mehr elf, aber sei’s drum. Ich habe das Buch des Titels wegen gekauft.
Die Heldin mit der merkwürdigen Tätigkeit des Nachflüsterns ist Wally Vanderbeck. Sie ist ein Waisenkind, den Vornamen bekam sie, weil ausgerechnet Schwester Walburga sie aus der Babyklappe geholt hatte, den Nachnamen hat sie sich selbst gegeben. Überhaupt ist Wally sehr dafür, selbständig etwas zu unternehmen. Das macht sie ein bißchen einsam unter den anderen Kindern und, das ist schlimmer, zur Zielscheibe böser Streiche der angesagtesten Gruppe, bestehend aus Trischa, Nuriel und Malle. Zu Beginn der Geschichte sind die drei auch gleich auf dem Kriegspfad gegen Wally. Nachts.
Mit knapper Not kriegt Wally noch die Kurve, um dem Unheil auszuweichen, aber schön findet sie das Leben nicht zur Zeit. Sie träumt intensiver denn je davon, ihre Eltern wiederzufinden. Wally ist nämlich überzeugt davon, daß sie nur versehentlich im Waisenhaus St. Quentin gelandet ist.
Sie ist aber nicht die einzige, die Probleme hat. Da gibt es auch noch den sehr seltsamen etwa gleichaltrigen Jakob und das kleine Zwillingspaar Robin und Sina. Bei einer weiteren Wanderung durchs nächtliche St. Quentin treffen die Kinder zusammen. Der Zufall will es, daß Wally eine erfundene Geschichte erzählt. Am nächsten Tag aber steht exakt diese Geschichte in der Zeitung. Jakob, der zunächst glaubt, daß Wally die Geschichte gar nicht erfunden hat, sondern irgendwo gelesen, muß sich eines Besseren belehren lassen. Was in der Zeitung steht, konnte Wally gar nicht wissen, die Neuigkeit war absolut neu.
Das gleiche passiert kurz darauf ein zweites Mal. Wally erzählt nachts eine Geschichte und am nächsten Tag wird sie wahr. Die dritte Geschichte auch. Und nun stellen die Kinder ihr Glück auf die Probe. Wally erzählt, daß sie ihren Vater finden wird und genau nach der Geschichte machen sich die Freunde auf die Suche.
Inzwischen aber hat auch Trischa vom Wallys ‚Talent’ gehört und versucht, es für ihre Zwecke auszunützen. Sie hat auch Wünsche, nun muß sie nur Wally dazu bringen, sie ihr in einer Geschichte zu erfüllen. Um das zu erreichen schreckt Trischa vor keinem miesen Trick zurück. Bald geht es richtig rund in St. Quentin.
Erzählt ist das alles sehr munter und hübsch verwickelt, so daß die Geschichte lange Zeit sehr spannend bleibt. Vom nächtlichen, mit geheimnisvollen Gegenständen gefüllten Speicher über die Märchen aus Tausend und einer Nacht, einer Waisenkinder-Schnulze bis hin zum Gezicke unter Mädchen in den Fängen erster Teenager - Wallungen finden junge Leserinnen alles, was das Herz begehrt. Die Kinder handeln selbständig, sie sind nicht immer nett, sie geraten in fein ausgedachte Klemmen. Wallys Schimpfwörter-Repertoire ist beispielhaft und sie darf sie lustvoll äußern. Es gibt schöne Überraschungen bei Alltagssituationen, von denen Kinder träumen (und nicht nur sie). Die Frage, wie es denn kommt, daß Wallys Geschichten immer wahr werden, ist ein fantastischer Köder, der zum Weiterlesen treibt, selbst wenn einer schon die Augen zufallen.
Gleichzeitig hat die Geschichte einige Plattheiten zuviel, nicht zuletzt einen Alibi-Türken, überhaupt hat sie ein bißchen zuviel von allem. Junge Leserinnen und Leser wird es wenig stören. Die Auflösung von Wallys Talent ist mit einem Augenzwinkern geschrieben, auch wenn sie ein wenig hakt. Was die Freude ernsthaft trübt, ist Wallys Familiengeschichte. Das Verhalten ihrer Mutter ist im Schmalztopf auf Uromas hinterstem Speisekammerregal anzusiedeln, und für ein heutiges Kinderbuch nicht zu tolerieren.
Womit das Buch nicht nur einen unirdisch blöden Titel, sondern auch eine unirdisch blöde Lösung der Probleme der sehr sympathischen Hauptfigur für sich beanspruchen kann.
Schade.