Erschienen: 09.11.2011
Seiten:254
ISBN 13: 978-3-492-27314-5
Kurzbeschreibung:
Einsatzstichwort »hilflose Person«. Ein dunkles Treppenhaus, leises Wimmern und keine Ahnung, welches Schreckensszenario sich hinter der Wohnungstür verbirgt. Einsatzstichwort »gefährliche Körperverletzung«. 30 Männer schlagen sich betrunken die Köpfe ein. Ausgang ungewiss, nur eins ist klar: Unverletzt wird Janine Binder heute nicht nach Hause gehen. Seit sie 16 ist, ist die 30-Jährige als Polizistin im Einsatz – und kann heute schon nicht mehr zählen, wie viele Tote sie gesehen hat. Trotzdem würde sie mit niemandem tauschen wollen. Ihr Job ist hart – aber unverzichtbar.
Über den Autor:
Janine Binder, geboren 1981, ist seit 1998 als Polizistin im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen. Nach Stationen bei der Autobahnpolizei und im sozialen Brennpunkt Köln-Chorweiler ist die Polizeikommissarin seit dem Abschluss ihres Studiums in Köln-Porz unterwegs. Da der Dienst nicht immer nur schöne Seiten hat, hat sie zur Verarbeitung der weniger schönen Dinge das Schreiben für sich entdeckt.
Meine Meinung:
Die Erzählungen die Volker Uhl und die Polizeipoeten bisher veröffentlicht haben, haben meine Einstellung zu Polizisten nachhaltig verändert, das konnte dieses Buch also nicht mehr erreichen, auch wenn die Autorin in den vorgenannten Büchern mit ihren Geschichten an dieser Veränderung sicher nicht ganz unschuldig war. Als Anwalt der auch Strafverteidigungen übernimmt habe ich häufig Formulierungen meiner Mandanten wie „Scheißbulle“ oder bei Straßenverkehrsdelikten „Wegelagerer“ einfach zu toleriert oder gar zu akzeptiert. Das passiert mir heute nicht mehr, es wurde mir der Blick hinter die Formulierung der Strafanzeige, des Protokolls, auf Menschen erlaubt, auf Menschen mit ihren Sorgen, Problemen und ihrem Zielen.
Janine Binder liefert mit diesem Buch eine Kurzgeschichtensammlung, die mit Ausnahme der ersten Geschichte chronologisch aufgebaut ist. Dabei schlägt diese Geschichte „Worauf uns niemand vorbereitet“ den Bogen, den mittlerweile ist Frau Kommisarin Binder selbst Mentorin für einen jüngeren Kollegen bei einem Einsatz , der emotional verstört, der den Leser mitten hinein nimmt in diesen Beruf und der zeigt, dass jedes Mal, wenn Polizisten aus dem Auto steigen etwas ganz anderes passieren kann, als das womit gerechnet wurde, das jedesmal etwas passieren kann, das Grenzen erreicht und überschritten werden müssen
.
Nach diesem dramatischen Einstand blendet die Autorin zurück mit „Wie alles begann“ ins Jahr 1998. Sie erzählt von der Schnapsidee Polizistin werden zu wollen, motiviert von der zynischen Bemerkung des Einstellungsberaters der Polizei wegen des Einstellungstestes, als der über die zierliche sechszehnjährige Janine spottet „die schafft das sowieso nicht“ bis zum letzten Hindernis bei diesem Test, als sie nicht nur johlende Polizisten die sich auf dem Sprotplatz sonnen erlebt, sondern eben auch zum ersten Mal kollegiale Solidarität, als einer sich aufmacht und mit ihr als „Lokomotive“ rennt und sie im Zeitlimit über die Ziellinie quatscht.
Sie muss dann „Schnell erwachsen werden“ in zweieinhalb Jahren Ausbildung, bevor sie ihre erst Stelle bei der „Geradeauspolizei“ der Autobahnpolizei Köln antritt. Bis der Bogen zum Danke sich schließt erzählt die Autorin in 27 Kurzgeschichten tragisches, komisches und tragisch-komisches in so gelungener Mischung, dass keine Lachfalten sich bilden und keine Depressionen aufkommen, das aber ein tiefer Einblick in den Beruf und den beruflichen Alltag einer Polizistin mit allen Höhen und Tiefen entsteht. Von der Dramatik als 1 Meter 58 cm kleine Blondine dem durchdrehenden Zweimeter Kraftprotz gegenüberzustehen bis zum stundenlangen Warten auf den Drogenkurier an der Autobahnauffahrt , vom manchmal nervenaufreibenden, manchmal sterbenslangweiligen Dienst am Funktisch bis zu den Toten, die man sich eben nicht aussuchen kann, auf die man trifft in diesem Beruf. Die Toten, die besonders an die Nieren gehen wenn man sie kennt, wie der junge Selbstmörder in der Geschichte „Ich hoffe es geht dir besser , da, wo du jetzt bist“ – ein Junge den die Polizei und eben auch die Autorin unzählige Male gerettet hat- unzählige Male Hilfe angeboten hat, unzählige Stunden investiert- und am Schluß lag er eben doch auf der Straße vor dem Hochhaus. Oder die Seitenbemerkung in der Geschichte die dem Buch seinen Titel gab, als die Polizistin einen Autofahrer, der es eilig hatte weiterzufahren auf der Autobahn nicht im Stress zusammenstauchte sondern einfach stumm im Schein einer Taschenlampe etwas zeigte, das einmal ein Teil eines Menschen war. Ohne Leichen, aber nicht weniger beeindruckend solche Erlebnisse wie in der Geschichte „Mein Mann macht so etwas nicht“ als bei einer Durchsuchung beim braven Familienvater Kinderpornographie auf dem PC entdeckt wird – und für die Ehefrau eine Welt zusammenbricht oder in "Wie stoppt man einen Geisterfahrer", als ein demenzkranker Mann mit dem Auto stur über die Autobahn fährt und Menschenleben in Gefahr bringt.
Die Autorin erzählt das alles mit einer „gradlinigen, gefühlvollen, amüsanten, lakonischen, manchmal ein bisschen naiven und nicht selten ernüchternden Erzählweise“ (Tom Liehr) , die nie das Gefühl aufkommen lässt hier eine Betroffenheitssülze serviert zu bekommen und nie irgendwelchen voyeristischen Bedürfnisse befriedigt, nie Cobra 11 oder Barbara Salesch imitiert, sondern am Thema, an der Realität bleibt und nicht des Effektes wegen zur Reality Show wird.
Diesem Buch kann man nur viele, viele Leser wünschen, die dann hoffentlich bei ihrem nächsten Treffen auf einen dieser Uniformierten , sei es nun in blau oder grün/beige, nicht erst in Defensivstellung und Agressionsmodus in Erinnerung an ihr eigens Sündenregister umschalten sondern offen erkennen, dass da ein Mensch steht, der zuerst anderen Menschen helfen will und seinen Job tut, so gut er kann.