Die Kunst der Testleser-Auswahl

  • Madame Bovary gilt als Zuckerstück der Weltliteratur. Vermutlich wäre es längst abgelutscht, wenn Flauberts Freunde von der ersten Fassung nicht maßlos enttäuscht gewesen wären. Sie überschütteten den armen Poeten mit Kritik und peitschten ihn zur Spitzenleistung.


    A star was born!


    Professionelle Autoren und Hobbyautoren brauchen Testleser. Nach welchen Kriterien wählt der Profiautor Testleser aus:


    1. Sucht er nur Leser seines Genres oder fischt er auch neben seiner Zielgruppe?
    2. Wie viele Testleser sollten es sein?
    3. Männlich/weiblich = 50%/50% ?
    4. Wie reagiert er bei konträren Meinungen?
    5. Bereitet er einen Fragenkatalog vor?


    Oder verzichtet er auf Testleser(hörer) und folgt nur seiner inneren Stimme?

  • Hier würden mich auch die Antworten der hier im Forum versammelten Autorinnen und Autoren sehr interessieren. Wäre toll wenn wenigstens einige von ihnen die Fragen von Beisswenger beantworten würden. Danke. :anbet

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zufälligerweise habe ich gerade dieser Woche wieder ein Manuskript an Testleser geschickt, deswegen kann ich ganz frisch hier von meinen persönlichen Krieterien berichten:


    Zitat

    Original von beisswenger
    1. Sucht er nur Leser seines Genres oder fischt er auch neben seiner Zielgruppe?


    Auch neben der Zielgruppe. Ich halte Zielgruppen ohnehin für Kunstkonstrukte - was früher "für 12 bis 16 Jahre" etikettiert war, ist heute "All Age" und wird mehrheitlich von Erwachsenen gelesen. Zudem bekommt man einen besonders frischen Blick, wenn jemand, der eigentlich kein Fantasy liest, eine Sword and Sorcery-Geschichte kommentiert.


    Zitat

    Original von beisswenger
    2. Wie viele Testleser sollten es sein?


    Besser 1 guter als 10 schlechte. Insgesamt nicht mehr als 5, damit man noch die Möglichkeit hat, mit jedem einzeln über das Manuskript zu sprechen.


    Zitat

    Original von beisswenger
    3. Männlich/weiblich = 50%/50% ?


    Mehr weiblich als männlich. Liegt vielleicht daran, dass ich selbst männlich bin und deswegen für mich die "weibliche Sicht" wertvoller ist, die ich schließlich nicht selbst beisteuern kann. Grundsätzlich werden aber ohnehin viel mehr Bücher von Frauen als von Männern gekauft, deswegen hat die weibliche Sicht mehr Relevanz. Jedenfalls, wenn das Manuskript kein Porno, kein Western und keine sehr technisch getragene Science Fiction ist.


    Zitat

    Original von beisswenger
    4. Wie reagiert er bei konträren Meinungen?


    Bei einem gemischten Bild gibt meine eigene Meinung den Ausschlag. Wenn ich selbst keine ausgeprägte Meinung habe, diskutiere ich mit den Probelesern über die Passage und bilde mir so eine Meinung.


    Zitat

    Original von beisswenger
    5. Bereitet er einen Fragenkatalog vor?


    Nein. Die Probeleser sollen das Manuskript möglichst so lesen wie ein ganz normales Buch. Sie sollen sich als Leser fühlen, nicht als Laboranten. Bei einem Fragenkatalog würde ich befürchten, dass die Authentizität des Leseeindrucks litte.


    Bei mir gibt es ein weiteres Kriterium: Die- oder derjenige schreibt nicht selbst. Autoren neigen massiv dazu, sich zu überlegen, wie sie selbst einen Stoff umgesetzt hätten oder arbeiten, noch schlimmer, irgendwelche Regelkataloge ab (... nicht mehr als drei Adjektive in einem Satz ...). Das ist für mich uninteressant.


    Außerdem muss ich ein gewisses Vertrauensverhältnis zu den Testlesern haben - ich habe keine Lust darauf, mein Manuskript als Download auf irgendeiner Webseite auftauchen zu sehen.


    Zitat

    Original von beisswenger
    Oder verzichtet er auf Testleser(hörer) und folgt nur seiner inneren Stimme?


    Tendenziell ist tatsächlich meine eigene Meinung ausschlaggebend. Mein Name steht nachher auf dem Cover und ich muss zu dem Buch stehen. Wenn es Fehler in der Geschichte gibt, sollen es bitte meine eigenen Fehler sein.

  • Ich lehne inzwischen grundsätzlich Testleser ab.


    Meine Erfahrungen sind, dass es zuviele Meinungen und Geschmäcker gibt. Ich kann nicht für alle schreiben. Die ganz Berufenen würden am liebsten noch selbst mitschreiben.


    Das habe ich mal bei meinen Verlagskollegen gefragt: 90% sagten, nicht einmal mein Partner darf mir da rein quatschen.
    Das ist allerdings bei mir anders. Meine Frau ist Dramaturgin und muss mitquatschen. Sonst bekommt nur der Lektor als 2. Instanz das MS zu sehen.


    Anders sieht es bei meinen "Schülern" aus, die ich als Mentor betreue. Da bin ich der Testleser, der aber eine ganz andere Sicht auf das MS hat. Eher die des Lektors.


    Also, ich bin gegen Testleser


    euer hef

  • Interessantes Thema.
    Acht sollen's bei mir sein, im Idealfall, und am liebsten haelftig:
    Eine Haelfte Maenner, eine Haelfte Frauen
    Eine Haelfte Leser, eine Haelfte Kollegen
    Eine Haelfte Leser/Autoren des eigenen Genres, eine Haelfte aus der genrefreien Literatur.
    Fragenkataloge erstelle ich nicht, sage aber schon, worauf bitte besonders geachtet werden soll.
    Das Problem mit den kontraeren Meinungen entsteht bei mir leider nicht, weil meine Schwaechen zu deutlich sind und in eine Richtung gehen. Meine Testleser muessen nach Laengen, Langeweile, Pathos und Kitsch fahnden, und wo das angemahnt wird, werde ich taetig - egal ob's einem aufgefallen ist oder allen acht. Es trifft immer zu ...
    Wuerde ein einzelner Testleser bei mir eine Stelle als zu nuechtern/zu kurz/zu sachlich anmahnen, wuerde ich es - mit Bedauern - als irrelevante Einzelmeinung ausser Acht lassen.
    Fuer mich ist wichtig, dass meine Testleser absolut verlaesslich sind, sich also nur melden, wenn sie es auch schaffen, zu lesen, weil ich hysterisch auf das Ausbleiben einer Rueckmeldung reagiere. Ich denke dann: Ach Gott, das Ding war so doof, dass X das nicht mal zu Ende lesen konnte - und jetzt traut der sich nicht, mir das zu sagen. Da kann X mir hundertmal erzaehlen, der Hamster war krank. Bei mir hat sich das dann so festgesetzt (so doof ich das selbst finde), und das blockiert mich. Kritik dagegen darf gern direkt formuliert werden (Ich kann mit "Das ist Muell" wesentlich besser leben als mit: "Also weisste, du hast dir ja wacker Muehe gegeben, aber ..."). Womit ich nicht kann, sind persoenlich-emotionale Geschmacksaeusserungen a la: "Der Hansi, den fand ich so doof, weil der ist wie mein Ex-Schwiegervater, mach den mal anders." Sowas nuetzt mir nichts (ist aber auch nur einmal passiert).
    Gute Testleser, die ermutigen, hysterische Autoren beruhigen, aber vor allem Naegel auf Koepfe treffen, scharfsichtig bleiben, auch da wo der Text zum Gaehnen langweilig ist, und auch noch Zeit fuer Rueckfragen opfern, sind Gold wert. Ich wuenschte, der Verlag oder ich haetten ein Budget, um sie zu bezahlen.


    Herzliche Gruesse von Charlie

  • Ich arbeite meist mit vier bis fünf Testlesern. In der Mehrzahl sind sie weiblich, das hat sich aber einfach so ergeben, lieber wäre es mir, es wäre ausgewogen.
    Fragenkatalog gibt es keinen, wenn ich mir aber bei bestimmten Passagen unsicher bin, bitte ich meine Testleser, auf diese Stelle besonders zu achten.
    Meist arbeite ich in Abschnitten, da kann ich schon im nächsten Abschnitt auf die Rückmeldungen Rücksicht nehmen.
    Gibt es verschiedene Meinungen, dann entscheide ich ebenfalls nach meinem Gefühl, es sei denn, die Kritik ist so logisch und nachvollziehbar, dass ich mir denke, Hoppla, warum bin ich selbst und die anderen Testleser da nicht auch draufgekommen.
    Haben aber zwei oder gar alle an der gleichen Stelle ihre Probleme oder es fällt ihnen allen das Gleiche auf, dann ändere ich das.
    Bei beiden Romanen hatte ich noch eine Medizinerin als finale Testleserin, die die Manuskripte in einem Rutsch gelesen hat und es auf Authentizität überprüft hat.
    Ja, und dann ist es soweit, dass mein Agent das Manuskript erhält und noch seine Meinung dazu sagt, sodass da auch noch einige Änderungen vorzunehmen sind, bevor es an den Verlag geschickt wird.


    LG Berta

    Berta Berger - "Die Prinzessin, die von der Liebe nichts wissen wollte" 2008 Autumnus Verlag
    "Kunigund kugelrund" Autumnus Verlag 2009


    Valentina Berger - "Der Augenschneider" Psychothriller, Piper Verlag August 2010

  • Ich finde es wahnsinnig schwer, geeignete Testleser zu finden.


    Nachdem ich einige Versuche gestartet hatte, habe ich nun das absolute Testleser-Traumteam für mich gefunden:
    Ein Lehrer-/Dozentenehepaar.
    Die beiden sind es gewohnt, kritisch zu lesen, habe keine Hemmungen vor Randbemerkungen, denken sehr geradlinig und strukturiert - und sie sprechen auch noch miteinander über die unterschiedlichen Eindrücke.
    Da er überwiegend Krimis liest, kann er mich auch auf Genretypisches hinweisen.


    Mir ist bei den Testlesern wirklich wichtig, dass sie pingelig sind. Je mehr sie finden, desto besser - ich kann dann am Ende entscheiden, worauf ich eingehe und welche Einwände ich ignoriere.


    Einen Fragenkatalog habe ich jedoch nicht.


    Viele Grüße,
    Melle