"Sterneneis" von Kristin Marja Baldursdottir

  • Achtung, Frauenbuch! Am liebsten würde ich sämtlichen Exemplaren dieses Buches einen solchen Aufkleber verpassen. Und dafür den eigentlichen Klappentext streichen. Der sagt nämlich ungefähr so viel über das Buch aus, wie ein Kochrezept über den Geschmack eines Gerichts. Eigentlich geht es hier schlicht und einfach um die Vergangenheitsbewältigung einer etwas verkorksten Frau Mitte 50, und nicht etwa um einen Wochenendausflug einer Erwachsenen und eines Teenagers.


    Ich muss mich wirklich ein wenig über den deutschen Verlag ärgern. Den der hat in meinen Augen dem Leser gegenüber Etikettenschwindel betrieben. Das, was der Klappentext hier anpreist, ist wenig mehr als Auslöser für die Handlung - insofern man das als Handlung bezeichnen kann, was man hier serviert bekommt. Es fängt schon damit an, dass einem vorgegaukelt wird, eine erwachsene Frau fahre mit "der Tochter einer Bekannten" in ihr Ferienhaus, um die Folgen eines Einbruchs zu verdauen. Schon zweimal falsch. Erstens, das Mädchen ist eine völlig Fremde für die Frau; sie ist die Tochter der Innenarchitektin, welche diese bei der Protagonistin ganz einfach für ein paar Tage "abgeladen" hat. Von wegen Bekannte. Zweitens, die Heldin wollte sowieso in das Ferienhaus fahren, um an einem Vortrag zu arbeiten. Der Einbruch wird nie wieder erwähnt, und war für die Handlung mehr als überflüssig.


    Was dann folgt, las sich zwar oft poetisch und schön, kann aber meiner Meinung nach nur sehr ansatzweise als "Handlung" bezeichnet werden. Der Ausflug in das Ferienhaus ist wenig mehr als ein loses Gerüst, an dem die Kindheitserinnerungen von Gunnur, der Protagonistin, aufgehangen werden. Denn Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, erweist sich kurioserweise als einziges Mittel, um den renitenten Teenager einigermaßen bei Laune zu halten - wo es doch in dieser Einöde schon keine funktonierenden Medien gibt.


    Schon diese Tatsache allein fand ich, man entschuldige mich bitte, schlicht unglaubwürdig. Mir ist die Absicht der Autorin zwar durchaus klar: eigentlich wollte sie von Anfang an die Vergangenheit Gunnurs in den Mittelpunkt stellen. Aber warum das ausgerechnet anhand einer Rahmenhandlung funktionieren soll, in der ein pubertierendes Gör bei einer Mittfünfzigerin festsitzt - das ist mir ein Rätsel. Dann hätte man sich die Rahmenhandlung gleich ganz sparen können, zumal alles völlig in der Schwebe bleibt, und das schwierige Verhältnis Gunnur / Gast weder in den Alltag zurückgeführt, noch wirklich "gelöst" wird. Das Buch endet einfach mit einer mehr als schwer zu dechiffrierenden Andeutung, Gunnur habe nun ihren Frieden mit ihrer Vergangenheit und vor allem mit ihrer Mutter geschlossen.


    Ich möchte meine vorangegangenen Bemerkungen insofern "entschärfen", als ich nicht grundsätzlich von der Lektüre abraten würde. Die Widmung im Vorsatzblatt hätte eigentlich für mich auf den Umschlag gehört; dort sagt die Autorin nämlich, Männer läsen dieses Buch "auf eigene Gefahr", weil es hier um sehr weibliche Themen gehe. Stimmt zu 100 %! Es geht um eine schwieriges Verhältnis einer vaterlosen Tochter zu ihrer Mutter, um die Versuche dieser Tochter, sich selbst zu behaupten, eine eigene Identität zu finden. Es geht um schöne Naturschilderungen, um die Rolle der Frau in Island, und um poetische Sprache. Nur geht es eben fast gar nicht um die Rahmenhandlung. Und das sollte man eben berücksichtigen, wenn man denn doch zu diesem Buch greift. Ich bescheinige der Autorin durchaus schriftstellerisches Talent. Nur eben kein glückliches Händchen darin, auf den Punkt zu kommen, dem Leser wirklich das zu reichen, worum es ihr eigentlich geht.

  • Hm, Baldúrsdóttir schreibt doch immer "Frauenbücher", und auch vom Cover her würde ichhier eher keine dystopische Science Fiction vermuten :gruebel


    Bezeichnend ist freilich, dass der Verlag das Buch "Sterneneis" genannt hat, heißt das Original doch Karlsvagninn, was das Sternzeichen "Großer Wagen" ist. Das Thema "Stern" hat sich zwar erhalten, aber ein isländisches Buch ohne "Eis" im Titel, ist für die deutschen Verlagsmenschen offenbar nicht denkbar :pille


    Was die Handlungsarmut angeht, so scheint mir das typisch für eine Strömung in der isländischen Literatur zu sein. Jón Kalman Stefánsson ist auch so einer, der großartige Bücher mit minimaler Handlung schreiben kann. Ob das von Baldúrsdóttir allerdings auch großartig ist, muss ich erst noch rauskriegen. Ich fürchte eher nicht :rolleyes

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Zitat

    Original von rumble-bee
    Die Widmung im Vorsatzblatt hätte eigentlich für mich auf den Umschlag gehört; dort sagt die Autorin nämlich, Männer läsen dieses Buch "auf eigene Gefahr", weil es hier um sehr weibliche Themen gehe.


    Irritierenderweise legte die Autorin auf der diesjährigen Buchmesse Wert darauf, diese Widmung in der deutschen Ausgabe als Übersetzungsfehler auszuweisen.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Irritierenderweise legte die Autorin auf der diesjährigen Buchmesse Wert darauf, diese Widmung in der deutschen Ausgabe als Übersetzungsfehler auszuweisen.


    Und was hätte stattdessen dort stehen sollen?

  • Jetzt bin ich aber auch neugierig geworden. Soll das heißen, das Original hat GAR KEINE Widmung gehabt??


    Das würde einerseits zu meiner Vermutung passen, der deutsche Verlag habe hier ein wenig versucht, das Buch zu "deuten" und dem Leser erklärbar zu machen.

  • Ich habe es jetzt gelesen und weiß immer noch nicht, was ich von diesem Buch halten soll. Besonders das Ende läßt mich fragend zurück. Ich muss noch etwas länger darüber nachdenken.

  • Sterneneis – Kristín Marja Baldursdóttir


    Krüger Verlag, 2011
    240 Seiten, Gebunden


    Aus dem Isländischen von Ursula Giger


    Kurzbeschreibung:
    In der Nacht waren Einbrecher gekommen und hatten sie beraubt. Hatten in ihren Sachen gewühlt, ihren Schmuck entwendet. Hatten sie wahrscheinlich im Schlaf beobachtet. Die Vorstellung, eine weitere Nacht in diesem Haus zu verbringen, war ihr unerträglich. Deshalb wollte sie fort, in ihr Sommerhaus.
    Mit der 14jährigen Tochter einer Bekannten fährt sie aufs Land. Doch wie verbringen eine Frau in den Fünfzigern und ein Mädchen im Teenageralter, das an Handy, PC und Fernsehen gewöhnt ist, drei Tage in völliger Abgeschiedenheit miteinander?
    Kristín Marja Baldursdóttir hat einen wunderbaren atmosphärischen Roman geschrieben, der vor großem landschaftlichem Panorama seine Leser mit auf eine Reise nimmt: eine Reise in die Erinnerung und in das Land der Phantasie.


    Über die Autorin:
    Kristín Marja Baldursdóttir ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen in Island.
    Romane: »Möwengelächter«, »Kühl graut der Morgen«, »Hinter fremden Türen«, »Die Eismalerin«.
    Die Autorin lebt in Reykjavík.
    2011 gewann sie den Jónas Hallgrimsson-Preis.


    Über die Übersetzerin:
    Ursula Giger, geboren 1974, studierte Skandinavistik in Basel, Zürich und Freiburg sowie in Island und Übersetzungswissenschaft in Reykjavík und Freiburg im Breisgau. Seit 2003 ist sie als Lehrbeauftragte für Isländisch an den Universitäten in Zürich, Basel und Freiburg im Breisgau tätig.


    Mein Eindruck:
    Dank der obigen Rezension von rumble-bee habe ich meine Erwartungshaltung an diesen Roman angepasst. Allerdings hatte ich schon auf der Frankfurter Buchmesse, als die Autorin ihren Roman präsentierte, den Eindruck, dass es ein sehr verhaltener Roman ist.


    Die Psychotherapeutin Gunnur fährt mit der 14jährigen Tochter ihrer Bekannten in ihr Landhaus. In dieser Abgeschiedenheit beginnt Gunnur dem Mädchen Hugrún, von ihr in Gedanken immer das Reh genannt, von ihrer Kindheit zu erzählen. Wie sie hier in der isländischen Abgeschiedenheit aufwuchs.


    Mir hat der Roman größtenteils zugesagt, wobei die Übergänge zwischen Gegenwart und Gunnur Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend manchmal scher zu folgen war.
    Die Erzählperspektive ist ausschließlich bei Gunnur. Der Generationsunterschied von Gunnur und dem Reh wird teilweise gut verdeutlicht.
    Kritisch muss ich anmerken, dass mir der Mutter-Tochter-Konflikt nicht wirklich eingeleuchtet hatte, ich daher manche Passagen nur überflogen habe und daher einiges am Buch an mir vorbeiging.


    Wer eine spannende Handlung sucht, ist hier falsch. Mich persönlich hat das nicht sehr gestört. Was ich an dem Buch schätze, sind die atmosphärischen Bilder, die bei den Beschreibungen der Landschaft entstehen. Es gibt viele gute Passagen, aber auch einiges an Leerlauf. Ich gebe 6 Punkte!