Nach diesem Buch fühlt man sich, als habe man zehn Romane gelesen, und nicht zehn Erzählungen! Alice Munro besitzt eine unglaubliche Gabe, die sie in diesem Band wieder einmal glänzend entfaltet: sie erweckt mit wenigen Worten ganze Szenerien, ganze Biographien zum Leben, sie porträtiert, sie ergründet menschliche Motivationen, sie stellt Fragen, sie nimmt den Leser mit, sie begeistert. Dabei sind nicht alle Geschichten wirklich in sich geschlossen. Oft gibt es offene Enden, oder doch zumindest fragwürdige. Doch gerade dies führt dazu, dass sich die Geschichten im Kopf des Leser fortspinnen, und er sich immer wieder in die erzählten Welten zurückträumt.
Beeindruckend finde ich diesen Band auch wieder wegen der Vielfalt der gewählten schriftstellerischen Mittel, die aber in jedem Falle professionell durchgezogen werden. Wir haben den allwissenden Erzähler, der von einer schicksalsträchtigen Periode im Leben der Hauptfigur berichtet, mit gelegentlichen Vor- und Rückblenden. Wir haben den Ich-Erzähler, einmal als Mann (!), einmal als junge Frau. Beide streunen wie die Katze um den heißen Brei um gewisse Geschehnisse in ihrem Leben herum; aber der Leser merkt doch genau, was ihr Leben ausmachte. Er durchschaut sie, wohingegen sie sich selber weniger verstehen. Wir haben unglaublich kunstvoll erzählte Familiensagas, die zum Teil in der fortlaufenden Gegenwart, zum Teil aber auch durch mehrere eingeschobene Erzählebenen reflektiert und gebrochen werden. Wir haben Geschichten, deren erzählte Zeit nur sehr kurz ist, aber deren Symbolgehalt dafür umso reichhaltiger ausfällt. Wir haben Dramen in der Vergangenheit. Und sogar kriminalistische Elemente gibt es! Wahrhaftig, dieses Buch enthält das ganze Leben, möchte ich meinen.
Allerdings möchte ich meine Begeisterung insofern einschränken, als die Bücher von Alice Munro gewiss nicht zum wohlfeilen Konsum taugen. "Verschlingen" lassen sie sich schlecht; sie möchten miterlebt und nachvollzogen werden. Diese Schriftstellerin, die zu meinem völligen Unverständnis immer noch nicht den Literaturnobelpreis gewonnen hat, verdient besondere Leser. Nämlich solche, die sich immer wieder neu innerhalb von 30 oder 40 Seiten auf einen ganzen Kosmos einlassen können. Und solche, die Atmosphären, Stimmungen, Rätselhaftem und teilweise auch Diabolischem gegenüber offen sind. Ach - die Welt wäre ärmer ohne Alice Munro.