Iris hat mich am Freitag an diesen älteren Text von mir erinnert, der wirklich ganz wunderbar zum Thema "Ekelhaft" paßt. Ich hab' ihn gerade gefunden - hier also zu Eurem Vergnügen, hat (noch) keinen Titel:
Eine der Eigenschaften von Büchern ist es, aus dem Regal zu plumpsen, wenn man sie vor ungefähr einer Minute hineingestellt und die Leiter weggetragen hat. Ich weiß nicht, woran das liegt, möglicherweise an der Trägheit von Literatur im allgemeinen (die ja glücklicherweise eine gewisse Nachhaltigkeit mit sich bringt), wahrscheinlich aber ist es einfach nur eines von Murphy's Gesetzen. Jedenfalls knatterte es lautstark aus dem neuen gemeinsamen Arbeitszimmer, kurz nachdem ich Lisa Maries Bücher auf den neuen Regalbrettern neben den meinen einsortiert und das unhandliche Aluminiumkletterding weggeschafft hatte. Ich bugsierte die Leiter aus der Kammer, trug sie ins Arbeitszimmer zurück und sammelte die Bücher auf. Erst jetzt nahm ich die Titel zur Kenntnis: „Forver fit“, „Schmeiß‘ den Kochtopf weg“, „Wie Fleischessen tötet“, „Vegetarische Krebstherapie“ und dergleichen. Ich blätterte durch ein paar dieser Machwerke und merkte nicht, daß Lisa Marie inzwischen neben der Leiter stand.
„Interessiert Dich das ?“ fragte sie.
„Nein.“
Daß sie Vegetarierin war, wußte ich schon vor unserem recht schnellen Zusammenzug (schreibt man das so ?). Wir kannten uns zwei Monate und waren in dieser Zeit natürlich häufiger essen gewesen: Während ich mir superölige Salamipizzen, superblutige Rinderfilets, mindestens aber Salat mit Putenbruststreifen reinzog, begnügte sich Lisa Marie mit Pasta & Pesto, Salat ohne Dressing (und, natürlich, ohne Fleisch), Müsli und all diesem Zeug. Zum Frühstück bei ihr gab es Malzmilchkaffee und frisches Obst, bei mir gab es nur Kaffee, aber ohne Malzmilch. Und nur ausnahmsweise Obst.
In den ersten Wochen unseres Zusammenlebens (es war das erste Mal für mich, mit einer Frau die Wohnung zu teilen; die romantische Vorstellung, nun pausenlos und in jedem Raum und auf jedem Möbelstück übereinander herzufallen, gab ich rasch auf) fand ich die Ursache für ihre Fleischabstinenz heraus: Lisa Marie war praktisch immerwährend krank. Das heißt, sie zeigte kein tatsächliches Krankheitsbild, hatte also keine Pusteln im Gesicht, es wuchs ihr auch nichts aus irgendwelchen Körperteilen, sie hatte keinen Haarausfall oder sowas, nein, eigentlich war sie das Abbild der idealgesunden Frau; aber Lisa Marie fühlte sich ständig krank. Schwer zu beschreiben, auf welche Art: Ich glaube, es war das Bewußtsein, eigentlich noch mehr für ihren Körper tun zu können. Innerhalb recht kurzer Zeit wurde sie zur Lactovegetarierin, etwas später zur Veganerin. Keine Pasta mehr und auch kein Malzmilchkaffee, dafür nur noch gefilteres (oder destilliertes) Wasser und frisches Obst, letzteres idealerweise vom Ökobauern, freiwillig vom Baum geplumpst. Essengehen wurde schwieriger und schwieriger, kochen, eine meiner Un-Leidenschaften, durfte ich schließlich selbst und nur noch für mich alleine. Ich nahm all das zur Kenntnis, machte ein paar Sprüche, ließ sie aber in Ruhe. Jeder muß auf die Art glücklich werden, die sich der Große Programmierer für ihn ausgedacht hat.
Dann verschärfte sich die Lage. Lisa Marie versuchte eine Eigenurintherapie. Neben dem Wasser und den verschrumpelten Suizidäpfeln stand ein Glas mit einer gelblichen Flüssigkeit. Auf dem Frühstückstisch lag ein neues Buch: „Urin - Wasser des Lebens“ von J. W. Armstrong. Ich verzog mein Gesicht in Richtung Lisa Marie, die mich erwartungsvoll anstarrte, und hob die „F.A.Z.“ vor selbiges, um mein Lächeln zu verbergen.
„Urin enthält über 300 wertvolle Ingredenzien.“ erklärte sie ungefragt.
„Hauptsächlich aber Pisse“, grummelte ich in das Feuilleton.
„Ignorant.“
Ich legte die Zeitung auf den Tisch. „Willst Du wirklich mit mir darüber diskutieren? Meinst Du, daß das Sinn macht?“
Sie hob das durchsichtige Gefäß mit ihrer - sicherlich noch warmen - Aussonderung (Wie nennt man das eigentlich? Rektal kann’s nicht sein, vaginal auch nicht. Harnal? Urinal?).
„Du willst das jetzt trinken?“
Sie nickte. „Das ist nur beim ersten Mal schlimm.“
„Wie bei einer Hinrichtung“, erklärte ich, ebenfalls nickend. Aber sie lachte nicht.
Als sie nichts weiter sagte und weiter die hellgelbe Flüssigkeit betrachtete, fragte ich: „Und wofür oder wogegen soll das gut sein?“
„Es enthält viele wertvolle Stoffe. Und es regt das Immunsystem an, weil Reste von Erregern in den Magen kommen. Es ist gut für alles, von A wie ...“ - sie stockte, es fiel ihr keine Krankheit mit ‚A‘ ein - „ .. bis Z wie Zahnschmerzen.“
„Klar, weil einem so übel wird, daß man die Krankheiten nicht mehr spürt.“
„Blödmann.“
„Blödfrau.“
Es ging noch ein bißchen weiter: Was aus dem eigenen Körper kommt, kann nicht schlecht sein, worauf ich mich vor lachen bog. „Es kommt unten heraus, das hat schon seine Gründe. Was unten rauskommt, ist immer schlecht“, dozierte ich. Sie schob mir das Buch herüber, ich schob es weiter, vom Tisch herunter, und dann redeten wir ein paar Tage nicht mehr miteinander. Ich schlief (und onanierte) auf dem Sofa im Wohnzimmer, Lisa Marie trank ihren müffelnden Gelbkrempel. Küssen wollte ich sie sowieso nicht, in dieser Phase.
Was soll ich sagen? Natürlich schlug die Therapie nicht an (Wogegen auch? Sie war nicht krank.). Nach ein paar Wochen gab sie es wieder auf, kehrte zurück zu destilliertem Wasser und unansehnlichen Früchten, die nur wenig gemeinsam hatten mit den dickglänzenden superbunten Dingern, die sich beim Türken um die Ecke in der Auslage stapelten. Dann fuhr sie für zwei Tage auf irgendein Seminar. Am Samstagnachmittag kehrte sie zurück, leicht verstört und etwas blaß, was ihr eigentlich ganz gut stand. Sie brachte ein neues Buch mit, eine broschürte Fadenheftung, selbstgemacht von irgendwem, und als ich den Titel las, wurde ich auch blaß.
„Das ist nicht Dein Ernst?“ fragte ich, mit einem bösen Unterton. Ich würde das nicht dulden können. Oder mußte ich? Sie nickte stumm und ging ins Badezimmer.
Eigentlich war es nur die logische Konsequenz. Was aus dem eigenen Körper kommt, kann nicht schlecht sein. Die Natur ist ein Kreislauf, auf die eine oder andere Art nehmen wir’s sowieso immer wieder zu uns. Sie kam mit einem Pappteller aus dem Bad. Ich erhob mich vom Küchentisch und verzog mich auf meinen Schaukelstuhl im Wintergarten. Von dort aus konnte ich sie beobachten. Es schüttelte mich. Ich war von Grund auf angewidert, aber auch sehr interessiert. Sie nahm sich Plastikbesteck aus unserem kleinen Picknickkorb und setzte sich vor den Teller mit der länglichen, dunkelbraunen Wurst. In ihrem Gesicht war ein merkwürdiger Ausdruck, eine Mischung aus grenzenlosem Entsetzen und heilloser Hoffnung. Sie schnitt ein Stückchen ab. Mehr bekam ich nicht mit, weil ich mich über das Katzenklo beugen und hineinkotzen mußte. Währenddessen fragte ich mich, welche wertvollen Inhaltsstoffe ich wohl gerade absonderte.