"Vox" von Nicholson Baker

  • Ich weiß noch, wie ich vor vielen Jahren auf dieses Buch aufmerksam wurde. Denn, man höre und staune, damals wurde es im "Literarischen Quartett" besprochen, und zwar durchaus kontrovers. Wie immer bei gewagten Themen, war Sigrid Löffler eine vehemente Gegnerin des Buches, wohingegen der Rest der Runde es zumindest besprechenswert, wenn nicht gar gut, fand. Das hat schon damals ausgereicht, um meine Neugierde zu wecken. Doch es hat Jahre gebraucht, bis ich es mir tatsächlich angeschafft, geschweige denn gelesen, habe.


    Und was sage ich heute? Auf jeden Fall habe ich eine Bildungslücke geschlossen, und habe es nicht bereut. Allerdings möchte ich vorab Einspruch erheben gegen die Schublade, in die es vom Verlag aus gesteckt werden sollte. Auf dem Umschlag steht "Roman", und nichts könnte meiner Meinung nach falscher sein! Die Handlung, die im Prinzip nur aus einem einzigen, sehr langen Telefongespräch besteht, kann man wohl kaum als Roman beschreiben. Der "Stern" hat es da schon wesentlich besser getroffen; man bezeichnete das Büchlein hier als "Telefonsex-Novelle". Das ist wesentlich zutreffender!


    Man steigt als Leser mitten hinein in dieses Gespräch zwischen Jim von der Ostküste und Abby von der Westküste (mehr erfahren wir kaum über die beiden). Beide haben, mehr oder weniger aus Langeweile oder Neugierde, bei einer sogenannten "Flirtline" angerufen, und sind in ein elektronisches "Hinterzimmer" umgeleitet worden, wo sie sich nun ungestört austauschen. Der Autor hält dabei ein Minimum an Fiktionalisierung aufrecht; besonders gegen Anfang gibt es noch Elemente wie "er sagte" und "sie sagte", die jedoch im Laufe des Buches immer seltener werden. Ferner gibt es nur noch dann Einschübe des Autors, wenn eine Pause entsteht, und sich einer der beiden beispielsweise ein Getränk oder ein Handtuch (!) holt.


    Ansonsten besteht das Buch ausschließlich aus wörtlicher Rede, aus abwechselnden Gesprächsbeiträgen. Zum Glück mit Anführungszeichen; aber auch das hilft nicht immer weiter, da die beiden Telefonierer entweder Sätze wie Maschinengewehrsalven abfeuern, oder aber sich gegenseitig lange Fantasien zum Besten geben. Man ist als Leser also auf jeden Fall gezwungen, genau mitzulesen und vor allem mitzudenken, um nicht den Faden zu verlieren.


    Den eigentlichen Inhalt dieses Gespräches braucht man hier wohl kaum nachzuerzählen. Von Anfang an ist klar, warum diese Personen angerufen haben, und auch das Ende kann man sich denken. Im wahrsten Sinne des Wortes steuert das Buch auf einen Höhepunkt zu, was aber überraschend "unschmutzig", ja sogar einfühlsam und regelrecht spannend gemacht war. Besonders schön ist dabei, dass Abby und Jim am Ende beschließen, in Kontakt zu bleiben.


    Man muss bei diesem Buch sehr aufpassen, und sein Unterscheidungsvermögen einschalten. Denn die Fantasien dieser beiden Menschen, und ihre Vorlieben, hat man als Leser nicht zu bewerten! Das steht auf einem völlig anderen Blatt. Was aber das Buch als solches vermitteln will, und wie es zu diesem Ziel gelangt, das kann man sehr wohl bewerten. Und meine Bewertung fällt hier, zu meiner eigenen Überraschung, durchweg positiv aus! Leider ist Sigrid Löffler damals genau in diese Falle getappt, und hat ihre Bewertung auf persönlichen Neigungen aufgebaut. Verklemmte Schnepfe, kann ich da nur sagen.


    Mich hat das Buch sehr berührt. Denn es wurde klar, je länger das Gespräch dauerte, dass hier eine tatsächliche Annäherung zweier Menschen stattfand! Sie fassten Vertrauen zueinander, öffneten sich immer mehr. Geradezu rührend fand ich, dass jeweils derjenige, der mit dem Erstellen einer Fantasie zugange war, sich die Mühe gemacht hat, genau auf das zu achten, was der andere ihm zuvor über sich erzählt hatte. Es wurden immer mehr persönliche Merkmale in die Geschichten eingebaut. Abby und Jim trugen Sorge füreinander, sie wollten dem anderen wirklich Freude machen. Und sie überschlugen sich regelrecht vor Fabulierfreude und Detailbesessenheit!


    Auch über Erotik und Stimmungen habe ich einiges gelernt. Es hängt bei der Lust so viel von teils winzigen Details ab! Schon die falsche Musik, die falsche Decke, ein falsches Wort kann alles zerstören. Und der Orgasmus ist bei weitem nicht das alleinige Ziel. Viel mehr geht es auch um das Auskosten der Vorfreude auf dem Weg dorthin. Eine der für mich schönsten Passagen des Buches befindet sich gegen Ende des Buches, als nämlich Jim seine Sicht des weiblichen Orgasmus beschreibt. Er sagt, das Empfinden von Lust macht eine Frau schön, und verleiht ihr Macht. Sie kann noch so hässlich oder übergewichtig etc. sein, wenn sie auf den Höhepunkt zusteuert, dann ist sie bewunderungswürdig und unangreifbar.


    Sicherlich muss man sich an das sprachliche Niveau ein klein wenig gewöhnen, das irgendwo zwischen Slang und Schriftsprache steckt. Es kann aber auch an der Übersetzung gelegen haben, da die beiden ständig neue Wörter für gewisse Tätigkeiten erfinden. Ansonsten las sich der Einblick in zwei Genießer-Seelen erfreulich flott und unproblematisch.


    Dieses Buch war sicherlich eine Herausforderung. Aber eine letztlich lohnende. Ich habe gelernt, ein Tabuthema, nämlich Telefonsex, mit anderen Augen zu betrachten. Ich musste über meinen eigenen Schatten springen. Und ich durfte erkennen, dass im modernen Zeitalter eine Annäherung durchaus auch auf ungewöhnlichem Wege stattfinden kann. Ich empfehle dieses Buch allen, die einen Nachmittag lang (denn mehr braucht man nicht) ihre eigenen Ansichten zum Thema Sex überprüfen und sich gleichzeitig unterhalten lassen wollen.