Der Turm der Könige, Nerea Riesco, Orig.titel „El elefante de marfil“, Übersetz. Lisa Grüneisen, Scherz im S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011, 537 S., ISBN 978-3-502-10226-7
Zur Autorin (lt. Klappentext):
Nerea Riesco wurde 1974 im baskischen Bilbao geboren. Sie schreibt Kolumnen für die große spanische Zeitung „El País“ und unterrichtet Journalismus an der Universität von Sevilla. Außerdem arbeitet sie für den spanisch-arabischen Radiosender „Wahatu al Andalus“. Für ihren Roman „El país de las mariposas“ erhielt sie den „Premio Ateneo Jóven de Novela de Sevilla“. „Der Turm der Könige“ erscheint in über 20 Ländern.
Meine Meinung:
Aufgrund des Klappentexts hatte ich die Erwartung, dass Nerea Riescos historischer Roman „Der Turm der Könige“ Handlung in zwei Zeitebenen bietet. Des weiteren hat die Anpreisung zum Buch von Ildefonso Falcones „ein großartiges Epochenbild des historischen Sevilla und seiner Kathedrale.“ bei mir den Eindruck erweckt, dass die Kathedrale im Mittelpunkt des Romans stehen würde. Beide Erwartungen hat der Roman nicht erfüllt, aber ich habe einen historischen Roman gelesen, der mir Sevilla im 18. Jahrhundert, dessen Entwicklung und mir unbekannte Aspekte aus der Entwicklung des Schachspiels näher gebracht hat, und mich mit einer spannenden epischen Familien- und Abenteuergeschichte sehr gut unterhalten hat.
1248 ergibt sich der maurische Herrscher Axataf in Kastilien König Ferdinand III.. Um zu verhindern, dass die Mauren das Minarett ihrer Moschee, die Giralda, abreißen, schlägt Ferdinand ein Schachturnier vor, um über das Schicksal dieses Turms zu entscheiden. Ein Turnier, das selbst 500 Jahre später noch nicht beendet ist und damit auch noch keinen Sieger hat... Aber nicht jeder kann als Spieler die begonnene Partie fortführen, es gibt jeweils einen Auserwählten, der für die Mauren oder die Christen spielen kann und es gibt diejenigen, die ein Interesse daran haben, die Fortsetzung zu verhindern. Das mittelalterliche Schachturnier bietet lediglich den Aufsatzpunkt für die im 18. Jahrhundert angesiedelte Familiengeschichte der Druckerwitwe Julia de Haro und ihres zweiten Mannes, des geheimnisvollen Léon de Montenegro, dessen Vergangenheit eng mit der maurischen Vergangenheit Sevillas und dem mittelalterlichen Schachturnier zusammenhängt. Léons Vergangenheit wird selbst das Leben ihrer Nachkommen beeinflussen.
Die frei erfundene Wette zwischen dem Infanten Alfons und Axataf und deren Fortführung steht glücklicherweise nicht im Mittelpunkt des Romans, insofern schmälert die Tatsache, dass die Ausführung dieses Themas sehr konstruiert ist, nur unwesentlich die eigentlichen Stärken des Romans. In der Ausgestaltung der epischen Familiengeschichte zeigt Nerea Riesco ihre erzählerischen Fähigkeiten, und es gelingt ihr, auch wesentliche Nebenfiguren des Romans wie z. B. Mamita Lula, den Lehrer Monsieur Verdoux und den Angestellten Christóbal so authentisch auszugestalten, dass sie nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Ereignisse wie das große Erdbeben von Lissabon 1755, die Entwicklung des Druckwesens, die Entwicklung des Sklaventums, Frauenrechte, das Gelbfieber, die Aufklärung, die französische Revolution und vieles mehr beeinflussen das Leben und Schicksal der Familie de Haro / de Montenegro, natürlich aber auch ihre ganz persönlichen Dramen und so ist das Leben der Familienmitglieder und ihrer Nachkommen von einer Vielzahl von Veränderungen und damit auch allen positiven wie negativen Emotionen des Lebens geprägt. Insbesondere in den Passsagen, die Nerea Riesco der familiären Entwicklung in diesen Wirren widmet, gelang es ihr, mich als Leserin regelrecht zu fesseln.
Der in fünf Teile und 23 Kapitel gegliederte Roman wird durch den Kapiteln vorangestellte Zitate rund um das Schachspiel bereichert. In ihrem Nachwort differenziert die Autorin zwischen Fakten und Fiktion und erläutert, wo sie sich schöpferische Freiheiten erlaubt hat.
Der Scherz Verlag hat die deutsche Ausgabe um einen Grundriss der Kathedrale von Sevilla im Bucheinband und einen historischen Stadtplan Sevillas im Inneren des aufklappbaren Schutzumschlags ergänzt.
„Der Turm der Könige“ von Nerea Riesco wird allen Lesern, die sich für die Entwicklung Andalusiens des 18. und 19. Jahrhunderts interessieren und spannende Familienepen mit einem Hauch Abenteuer mögen, gefallen. Schade, dass das Marketing des Buches seinem Inhalt nicht wirklich Rechnung trägt.
8 von 10 Punkten