Das zweite Leben des Cassiel Roadnight - Jenny Valentine (14-16 J.)

  • Inhalt:


    Als der Obdachlose Chap in einer Notunterkunft für schwierige Kinder beharrlich für den vermissten Cassiel Roadnight gehalten wird, der ihm erschreckend ähnlich sieht, kann er schließlich nicht anders: Er nimmt seine Identität an.


    „Ich überlegte, in was für einem Haus Cassiel wohl lebte, in was für einem Zimmer, und wie es sich anfühlen würde, wenn es mir gehörte. Ich dachte an das Frühstück am Küchentisch, an Pfannkuchen und schlechte Witze und Orangensaft und die gelbe Sonne auf unseren Gesichtern. Ich dachte, wie es sein würde, zur Schule zu gehen und Freunde zu haben und normal zu sein.Ich sehnte mich nach dem, was Cassiel Roadnight hatte. Mit jedem Atemzug sehnte ich mich danach.“
    (S. 18-19)


    Aber während Chap noch versucht, als vermeintlicher Cassiel nicht aufzufliegen und das neue Familienleben zu genießen, muss er herausfinden, auch in der neuen Familie nicht alles normal ist. Und was war vor zwei Jahren der Grund für das Verschwinden des echtes Cassiels?


    Meine Meinung:


    Nachdem ich von Jenny Valentine „Die Ameisenkolonie“ gelesen habe, bin ich begeisterter Fan der Autorin. Selten habe ich ein Buch gelesen, das auf so wenigen Seiten so viel Gefühl übermitteln kann.
    Umso mehr habe ich mich gefreut, als ich nun das neue Buch von ihr in den Händen hielt, das als „atemberaubender Thriller über Familie, Identität und Selbstfindung“ gehandelt wird.


    Das Buch startet in altbekannt guter Manier: Schon auf den ersten Seiten, wird sehr beeindruckend und glaubwürdig das Bedürfnis eines vermutlich jeden Jugendlichen nach einem Zuhause, nach einer liebenden Familie und vor allem nach Identität und Zugehörigkeit beschrieben.
    Ich mag die Charakterzeichnungen der Autorin, die Personen erschafft, die gleichzeitig beeindruckend stark, aber dann doch auch wieder so schwach und liebebedürftig sind.


    Im Verlauf des Buches wird die Geschichte aber mehr und mehr zu einem wirklichen Jugendthriller: es geht um die Aufklärung von Ungewissheiten und plötzlich steht ein gefährlicher Gegner im Raum. Und so sehr ich Thriller sonst auch lesen mag: Wenn ich ein Buch von Valentine lese, möchte ich keine spannungsgeladenen Erlebnisse geschildert bekommen, sondern ich möchte zwischen Lachen und Weinen schwanken.
    Ich glaube, dass ich aufgrund meiner besonderen Erwartungshaltung durch „Die Ameisenkolonie“ etwas enttäuscht von der Geschichte war: Sie ist weniger bewegend und mehr spannend.


    Das soll aber nicht heißen, dass ich das Buch nicht geradezu verschlungen habe. Jenny Valentine ist durchaus ein Jugendroman gelungen, der sich von anderen Jugendbüchern abhebt. Sie greift auf eine ganz eigene Weise das Thema der Identitätsfindung auf. Ich vergebe 7 von 10 Sternen und damit eine klare Leseempfehlung.

  • KLAPPENTEXT:
    „Es war nicht meine Absicht, er zu werden. Ich suchte mir Cassiel Roadnight nicht aus einer Reihe von Kandidaten aus, die genauso aussahen wie ich. Ich ließ es einfach geschehen. Ich wünschte mir, es wäre die Wahrheit. Mehr habe ich nicht falsch gemacht, zu Anfang jedenfalls.“
    Ein obdachloser Jugendlicher nimmt die Identität eines vermissten Jungen an. Die Ähnlichkeit der beiden ist so verblüffend, dass nicht einmal die Familie von Cassiel den Betrug merkt. Doch jeder Mensch und jede Familie hat ein Geheimnis. Wer wird die Wahrheit als Erster herausfinden?

    ZUM AUTOR:
    Jenny Valentine studierte englische Literatur und zog in ihrer Kindheit regelmäßig um. Diese Angewohnheit hat sie bis heute bei behalten. Ihre beiden Jugendbücher „Wer ist Violet Park?“ und „Kaputte Suppe“ wurden mehrfach ausgezeichnet und auch ihre Kinderbuchreihe „Meine kleine Schwester Kiki & Ich“ ist sehr beliebt.



    EIGENE MEINUNG:
    Jenny Valentines größtes Talent ist das Lautmalen von Gefühlen. Wie kaum einer Anderen gelingt es ihr, den Leser so tief in die Gefühlswelt ihrer Protagonisten hinein zu reißen, dass man vom ersten Augenblick bis zum letzten Atemzug der Geschichte mitleidet, mitlacht, mitlebt.
    Chap, so hat ihn der Großvater immer genannt. Doch eigentlich ist er ein Niemand. Ein Niemand ohne Familie, ein Niemand ohne Zuhause, ein Niemand ohne Freunde. Dass man glaubt er sei ein verloren gegangener Junge, der von seiner Familie sehr vermisst wird, ist seine Chance auf ein neues Leben. Seine Chance endlich Jemand zu sein. Doch schnell merkt er, dass es sich mit solch einer Lüge nicht leicht leben lässt.
    „Das zweite Leben des Cassiel“ Roadnight ist mein zweites Buch von Jenny Valentine und befasst sich wie sein Vorgänger „Die Ameisenkolonie“ mit Menschen, die soziale Probleme haben. Mit Familien, in denen das alltägliche Leben nicht so leicht ist, wie in anderen Familien. So auch hier. Auf den ersten Blick scheint Chap, der ja jetzt Cassiel heißt, eine liebevolle Familie gefunden zu haben. Umso größer ist seine Angst sie wieder zu verlieren, wenn der ganze Schwindel auffliegt. Doch erst einmal hinter die Fassade geschaut bemerkt er, dass Helens Verhalten und die stets geröteten Augen oder Franks übermäßige Freundlichkeit nicht so normal sind, wie es zuerst den Anschein hatte. Als er Floyd kennen lernt, fühlt er sich in seinen Vermutungen über die „Normalität“ der neuen Familie bestätigt. Doch nicht nur das. Floyd offenbart ihm dunkle Geheimnisse, die sein neues Leben schnell wieder auf den Kopf stellen. Er muss sich entscheiden...
    Jenny Valentine ist eine der Schriftstellerinnen, die mit wenigen, leisen Worten ein sprachgewaltiges Werk schafft, das sehr berührt und eine Geschichte zaubert, die sich nachdrücklich in das Herz des Lesers einbrennt. Chap /Cassiels Geschichte ist so bedrückend und düster, so bemitleidenswert, dass es mir wirklich nah gegangen ist. Jenny Valentine schreibt die Gefühle ihrer Protagonisten so eindrücklich, so lebendig, dass man die Leere, die Einsamkeit und die Sehnsucht in Chaps Herzen hautnah spüren konnte. Aber auch seine Ängste, vor allem vor dem Verlust der neuen Familie gingen mir unter die Haut, obwohl diese wirklich alles andere als perfekt ist. Dennoch ist sie wie ein rettender Anker auf offener See.
    „Das zweite Leben des Cassiel Roadnight“ ist vor allem aber auch ein Buch voller Geheimnisse. Düstere und wenig düstere, schwerwiegende und solche, die ein ganzes Leben verändern können, schlummern in diesem dünnen Jugendbuch, das man kaum wieder aus der Hand legen kann, auch wenn man ein nicht mehr ganz so jugendlicher Leser ist. Eigentlich gelingt es mir in den meisten Büchern de Geheimnisse schon lange vor Ablauf der Geschichte aufzudecken, aber hier ist es der Autorin gelungen mich damit nicht nur zu fesseln, sondern auch immer wieder zu überraschen. Vor allem mit der Auflösung des größten Geheimnisses hätte ich nicht gerechnet.


    FAZIT:
    Jenny Valentine hat mich zum zweiten Mal mit einem ihrer Jugendbücher mehr als überzeugt. Mit einer Mischung aus sozialen Problemen, dunklen Geheimnissen und starken Gefühlen hat sie einen Roman kreiert, der anders ist, als sein Vorgänger und den Leser fesselt, bewegt und begeistert.

  • Die Texte innerhalb der Spoilermarkierungen kann man mitlesen, muss es aber nicht tun. Sie enthalten keinen Geheimnisverrat, sondern lediglich weitere Informationen über Personen und Handlungsverlauf.


    * * * * *


    Jenny Valentine: Das zweite Leben des Cassiel Roadnight, Roman; OT: The Double Life of Cassiel Roadnight; aus dem Englischen von Klaus Fritz; München 2011; dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, Reihe Hanser; ISBN 978-3-423-24883-9; Klappenbroschur; 237 Seiten; Format: 13,5 x 21 x 2,3 cm; EUR 12,90 (D), EUR 13,30 (A), SFr 18,90 (CH).


    „Und wenn ich Cassiel Roadnight wäre, sagte der Gedanke, dann müsste ich nicht mehr ich sein, wer immer das war. (…) Ich versenkte mich in diesen Gedanken. Was hatte ich zu verlieren? Es gab Menschen, die nach Cassiel Roadnight suchten, aber das waren Menschen, denen er wichtig war. Er hatte seine Lieben. Er hatte sein Leben, in das ich ohne Weiteres eintreten konnte. Und was hatte ich?“ (Seite 14)


    Der 16-jährige Chap ist in einer Londoner Notunterkunft für schwierige Kinder gelandet. Als ihn die Betreuer dort mit einem Suchplakat des seit zwei Jahren vermissten Cassiel Roadnight konfrontieren, ist er total von den Socken: Der Junge auf dem Bild sieht tatsächlich genauso aus wie er!


    Nach kurzem Zögern ergreift Chap die Gelegenheit, die ihm hier auf einem silbernen Tablett serviert wird: die Chance auf ein Zuhause und eine Familie! Er selbst lebt in Heimen und auf der Straße, seit Großvater Hathaway, bei dem er aufgewachsen ist, vor sechs Jahren ins Pflegeheim kam und starb. Seine Eltern hat Chap nie kennen gelernt. Seine einzige Familie war der Opa, ein einsiedlerischer pensionierter Lehrer mit einem Alkoholproblem.



    So eine richtig spießig-normale Familie erscheint dem jungen Mann als etwas ungeheuer Erstrebenswertes. Also „gibt er zu“, der verschwundene Cassiel Roadnight zu sein und lässt sich von dessen Angehörigen abholen.


    Auf einmal hat er einen großen Bruder namens Frank — einen erfolgreichen und etwas schnöseligen Banker, von dessen Geld die ganze Familie lebt. Mutter Helen ist seit dem Unfalltod ihres Mannes schwer medikamentenabhängig und bekommt nicht viel mit von der Welt. Ihre Tochter Edie – Cassiels ältere Schwester – hat auf Beruf und Karriere verzichtet und kümmert sich um sie.


    Die Familie sieht, was sie sehen will, und kommt gar nicht auf die Idee, dass der junge Mann, den sie da abgeholt hat, gar nicht der verschwundene Sohn und Bruder sein könnte. Trotzdem gleicht Chaps neues Leben einem Tanz auf rohen Eiern. Ein falsches Wort, und man könnte ihn als Betrüger entlarven und in hohem Bogen hinauswerfen.


    Was ist überhaupt damals geschehen? Wie und wieso ist sein Doppelgänger verschwunden? „Schwester“ Edie deutet Spannungen zwischen Cassiel und Frank an. Aber wie soll Chap nach Details fragen, wenn alle davon ausgehen, dass er selbst das doch am besten wissen müsste?


    Vollends in Panik verfällt Chap, als „Bruder“ Frank Reporter von der Lokalpresse anschleppt, die einen großen Artikel über den verlorenen Sohn in der Zeitung bringen. Mit Fotos. Was, wenn der richtige Cassiel den Artikel liest? Wird er nicht zurückkommen, um den Hochstapler, der sein Leben gestohlen hat, höchstpersönlich zum Teufel zu jagen? Das darf nicht passieren! Auch wenn dieses Leben eine stetige Gratwanderung ist, Chap hat sich schon viel zu sehr an sein neues zu Hause und „seine Familie“ gewöhnt.


    Cassiels alten Kumpels geht er aus dem Weg. Er weiß ja nichts über ihre gemeinsame Vergangenheit. Dafür freundet er sich ein bisschen mit dem exzentrisch gekleideten Halbinder Floyd an, einem Außenseiter im Dorf, der sich nach Cassiels Verschwinden mit der Behauptung unbeliebt gemacht hat, der Junge sei ermordet worden. Nicht einmal die Polizei hat ihm geglaubt.


    Diesem schrägen Vogel kann Chap nicht lange etwas vormachen. Zu viel weiß Floyd über Cassiels Probleme und Machenschaften.

    Wenn der falsche Cassiel und der verrückte Floyd ihre Informationen zusammenschmeißen, fliegt einem honorigen Bürger sein kriminelles Lügengebäude mit Schmackes um die Ohren …


    Spannend und beklemmend ist es, den Herumtreiber Chap in sein falsches neues Leben zu begleiten. Man fühlt und leidet mit ihm, wenn er ständig auf der Hut ist und Angst haben muss, seine neue, behütete Existenz durch eine unbedachte Äußerung wieder zu verlieren. Es ist eben nicht so einfach, ein fremdes Leben zu übernehmen, wenn man so gar nichts darüber weiß. Und dann muss er auch noch erkennen, dass selbst brave Durchschnittsfamilien ihre dunklen Geheimnisse haben können. Und dass es vermutlich besser gewesen wäre, er wäre ein Niemand auf der Straße geblieben.


    Vielleicht hätte er sich mit einem erfundenen Gedächtnisverlust aus der Affäre ziehen können. Aber auf die Idee kommt er nicht. Er kommt überhaupt auf so manches Naheliegende nicht. Genau wie der Leser.


    Mit einem Paralleluniversum hat die Geschichte von Chap und Cassiel nichts zu tun, auch wenn Chap dies mal kurz als Erklärung in Erwägung zieht. Mit Zufall schon eher. Aber eigentlich wäre es noch ein viel größerer Zufall gewesen, wenn sich die Wege der beiden Jungs nie gekreuzt hätten.


    Die Sprache der Autorin Jenny Valentine ist bildhaft und poetisch. Und da die Geschichte aus der Sicht Chap Hathaways erzählt wird, ist seine Sprache es auch. Das ist jedoch extrem unglaubwürdig für einen, der sechs Jahre in Kinderheimen und auf der Straße verbracht hat. Auch wenn er in den ersten zehn Jahren seines Lebens bei einem belesenen und kultivierten Großvater aufgewachsen ist.


    „Schau mich an. Ich wollte mich davon befreien, ich zu sein, mich von Chap, dem Gejagten, befreien, deshalb wurde ich Cassiel Roadnight, einer, der bereits gefangen war und im Gefängnis steckte. Ein Gemästeter und Angepflockter, ein mit Liebe Bedrängter.“ (Seite 112)


    Nein, tut mir Leid, so denkt und spricht keiner, der Chaps bisheriges Leben geführt hat! Irgendwann akzeptiert man beim Lesen, dass die Sprache nicht zum Protagonisten passt. Man liest darüber hinweg, weil die Geschichte so interessant und spannend ist. Und weil man ahnt, dass sie mit einem prolligen und unreflektierten Helden, bei dem jedes zweite Wort „f*ck“ ist, gar nicht funktionieren würde.


    Ob der Roman wirklich ein Happy End hat, ist Ansichtssache. Auf einen kitschigen Schluss hat die Autorin zum Glück verzichtet. Für manch einen Menschen in der Geschichte nimmt das Leben auf jeden Fall eine radikale Wende. Was sich daraus entwickelt, wird sich weisen.


    Die Autorin
    Jenny Valentine studierte Englische Literatur und arbeitet heute in einem Bio-Laden. Sie ist mit einem Sänger und Liedtexter verheiratet und hat zwei Kinder

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner