Das ‚mutige Mädel’ des Titels heißt Willi, Wilhelmina genauer gesagt, aber den Namen mag sie gar nicht. Willi ist elf, bevorzugt kurzgeschnittene Haare und Hosen. Das ist heutzutage nichts Besonderes, in dem Jahr, als diese Erzählung für Mädchen ab acht(!) Jahren zum erstenmal erschien, war es aber entschieden etwas Besonderes, 1953, nämlich. Der Titel im Ersterscheinungsjahr machte allerdings keinen Hehl daraus. Zuerst lautete er nämlich ‚Willi hat die Hosen an’.
Und das hat sie. Willi kommt als Neue in die Klasse, bestaunt und begafft von den Schülerinnen und Schülern. Willi tut so, als mache ihr das nichts aus. Die anderen halten das umgehend für Arroganz und prompt hat Willi schlechte Karten. Was immer sie tut, man zeigt mit dem Finger auf sie. Da sie aus Hamburg kommt, machen sich die anderen über ihre ‚S-t’ oder ‚s-p’ lustig. Hin und wieder riechen ihre Kleider ein bißchen nach Fisch, ihre Mutter verkauft nämlich Heringe verschiedener Zubereitungsart auf dem Markt und verarbeitet die Heringe in der eigene Küche. Wir schreiben das Jahr 1953, wohlgemerkt.
Willi ist nicht auf den Mund gefallen und ihre Fäuste weiß sie auch zu gebrauchen, wie die anderen Mädchen in der Klasse übrigens auch. Als schließlich eine ganze Gruppe von ihnen prügelnd über Willi herfällt, greift ein älterer Schüler ein, Oskar. Die beiden freunden sich ein bißchen an. Aber auch einen Klassenkameraden lernt Willi bald kennen. Das ist Fridolin. Er ist in der Schule ähnlich verschrien wie Willi, sein Vater ist Lumpensammler, was Fridolin den Spitznamen ‚Lumpentüte’ eingebracht hat.
Willi findet Lumpensammeln faszinierend und bald darf sie mit ‚Lumpentütes’ Vater mitfahren, wenn der mit seinem Pferdewagen (1953!) seine Runden dreht. Ganz ohne Konflikt geht das aber nicht ab, weil die Mädchen aus der Klasse herausfinden, was Willi in de Freizeit so treibt. Der Spott wird nur schlimmer. Schließlich fliegen sogar die Bratheringe von Mutters Marktstand durch die Luft, wenn Willi mal die Wut packt, dann aber gründlich.
Das Lumpensammeln ist aber auch nicht ohne Abenteuer, nicht immer geht es dabei nämlich legal zu. Willi und Fridolin beobachten eine Gruppe älterer Jungen, die mit Buntmetall unrechtmäßig Handel treiben. Ausgerechnet Oskar gehört zu der Gruppe. Klar, daß Willi das Ganze in die Hand nehmen muß.
Am Ende, nach verschiedenen Verwicklungen, findet Willi sogar mit den Mädchen ihrer Klasse zusammen. Sie sind gar nicht so übel, stellt sich heraus.
Dieser kurze Kinderroman mit seinen ca. 62 Seiten erschien mindestens viermal, zweimal unter dem Titel ‚Willi hat die Hosen an’, dann als ‚Das mutige Mädel der Klasse 6’, zuletzt 1975. Es wäre interessant zu hören, was Kinder von Mitte der 1970er Jahre zu dem Alltag Anfang der 1950er sagen, der im Buch geschildert wird.
Die Geschichte ist ein bißchen seltsam, aber sie besticht durch die Figur der Willi. Sie ist ein selbständiges und selbstbewußtes Mädchen. Sie verzichtet nie darauf, Hosen zu tragen, noch wird sie im Verlauf der Handlung dazu gezwungen. Dieses Buch ist kein Disziplinierungsroman für Mädchen, wie soviele in diesen Jahren. Willis Mutter ist für die Zeit überraschend tolerant. Sie begrüßt es zwar nicht, daß ihre Tochter mit Bratheringen wirft, aber läßt keine Predigten vom Stapel, sie fordert Willi nicht auf, sich wie ein braves Mädchen zu benehmen oder gibt ihr allein die Schuld an den Geschehnissen. Sie appelliert an ihr Einsichtsvermögen und fordert sie auf, die Dingen auch mal von der anderen Seite zu betrachten. In Konfliktsituationen stellt sie sich aber auf die Seite ihrer Tochter, ohne Einschränkung.
Überhaupt lassen die Erwachsenen den Kindern einiges an Spielraum. Gleichzeitig scheint es selbstverständlich, daß Kinder mitarbeiten, etwa im Betrieb des Vaters, wie Fridolin. Es gibt die eine oder andere Konfrontation mit der Polizei, die höchst gemütlich abgehandelt wird. sobald geklärt ist, daß die Kinder nicht aus Bosheit gehandelt haben, ist alles wieder in Ordnung. das mag dem geringen Alter der Zielgruppe geschuldet sein. Den Konflikt mit Oskar klärt Willi ganz allein, so, wie auch alle beteiligten Kinder selbst die Weichen stellen, um am Ende miteinander auszukommen. Die Erwachsenen dürfen nur noch die letzten Wogen glätten und Kakao kochen.
Gemessen an seinem Alter ist die Geschichte ziemlich überraschend, gerade im Hinblick auf die Rolle der Hauptfigur. Willi hat die Hosen an und sie behält sie auch an, ebenso, wie sie ihren Namen behält. Das Buch hat eine Handvoll ziemlich lustiger Illustrationen, die von der Verfasserin selbst stammen. Während im Buch an Willis kurzen Haaren und den ebenso kurzen Hosen (Jungenhosen!) keinerlei Zweifel besteht, ist das auf den Einbänden über die Jahre etwas anders. Schließlich werden Bücher von Erwachsenen gekauft und deren (Vor)Urteilen ausgesetzt. In den fünfziger Jahren ziert als Willi in langen jeansartigen Hosen und mädchenhaften kinnlangen blonden Wellen das Cover. Bei der Ausgabe 1964 hat sie sehr kurze Haare, aber sie trägt einen Rock! 1975 schließlich sieht man die Arme nur noch von der Taille aufwärts und auf dem Kopf hat sie - o, Schreck, Willi! - Zöpfe.
Und da heißt es immer, mit den späten sechziger Jahren hätte ein frischer Wind durch die Republik geweht. Die Mädchenbuchecke hat er deutlich nicht gestreift.