Schatten mit Schnitzer
Ein wahrlich eigenartiges Buch. Ungewöhnliche Thematik, ambitionierter Schreibstil, durchdachter Aufbau. Und dennoch ahne ich, dass ich meine Bewertung etwas ratlos im Mittelfeld ansiedeln werde. Das mag durchaus daran liegen, dass das Buch und ich ein wenig aneinander vorbei geredet haben.
Zunächst einmal bin ich der Meinung, dass sich dieses Buch als reines Jugendbuch viel deutlicher und vor allem wahrheitsgemäßer einordnen und verkaufen ließe. Denn als „erwachsenen“ Roman kann ich es nun doch nicht ganz ernst nehmen. Nun sind Jugendbücher nicht per se schlecht; nur hätte mir eine realistischere Erwartungshaltung diesem Buch gegenüber bei der Lektüre sehr geholfen. So aber musste ich mich teilweise durch die ein wenig verquaste Fantasy hindurchbeißen, um den Faden nicht zu verlieren.
Die Idee, die hinter dem ganzen Buch steckt, finde ich allerdings großartig, erfrischend neu und anders. Hier wird sozusagen die ganze Welt, und vor allem: die ganze Magie, umgedeutet und neu erzählt. Schatten sind in diesem Buch eine eigene Lebensform, eine eigene Gattung Lebewesen, die sich immer wieder neuen Herren anheften. Und eine Art „Betriebsrat“ haben sie auch noch! Mit Schatten reden zu können, oder in deren Künste einzudringen, das ist eine Form von Magie, die sich nur durch besondere Begabung oder intensives alchemistisches Studium erlernen lässt.
In diesem Sinne wird auch Bezug genommen auf zahlreiche Ereignisse aus der tatsächlichen Historie; griechische Antike wird hier genauso erwähnt wie berühmte Forscher und Alchemisten des Mittelalters, oder Esoteriker der Neuzeit. Der Leser bekommt ein völlig neues Deutungsmodell für die Wirklichkeit angeboten: das, was wir „Realität“ nennen, ist in Wahrheit nur die eine Hälfte; alles, was in den übernatürlichen, spirituellen oder paranormalen Kontext fällt, beruht auf der bereits erwähnten „Schattenmagie“. So weit, so gut!
Doch nicht genug damit, dass der Autor hier eine komplett neue Wirklichkeit aufbauen und nacherzählen wollte. Seine (zu hohe?) Intention bestand außerdem darin, das Ganze an der Lebensgeschichte eines kleinen Jungen namens Jonas Mandelbrodt aufzuhängen, diese auf drei verschiedene Erzählstränge und –perspektiven aufzusplitten, und die Geschichte auch noch zum schicksalsträchtigen Abenteuer werden zu lassen, bei dem nichts weniger als die ganze Welt gerettet werden sollte. Und das alles auf gerade einmal 312 Seiten? Meiner Ansicht nach ist es nur logisch, dass dabei nicht alle drei Absichten gleich gut gelingen konnten. Man mag sich ja als Leser durchaus über die Länge von berühmten Fantasy-Wälzern wie dem „Herrn der Ringe“ mokieren; aber in diesem Falle hätte die Geschichte durch ein wenig mehr Seiten nur gewinnen können.
Dabei sind die guten Seiten dieses Buches durchaus nicht zu verleugnen. So hat sich der Autor die Mühe gemacht, für eine seiner drei Erzählperspektiven ein mittelalterliches alchemistisches Buch komplett zu erfinden, um daraus zu „zitieren“. Das zeugt von hoher Vorstellungskraft und Fabulierfreude! Auch der zweite Erzählstrang, aus der Sicht des Schattens von Jonas Mandelbrodt erzählt, fesselt den Leser durchaus. Vor allem die Sprache des Schattens scheint der Handlung angemessen – durch die erlebten Jahrhunderte hindurch hat sich ein sehr getragener, ja altertümlicher Stil herausgebildet. Als Drittes fand ich den „Rat der Schatten“ ein erfreuliches Novum, das für düstere Spannung sorgte. Gar nicht unähnlich dem berühmten Hexen-Rat aus „Macbeth“.
Doch gute Ansätze allein machen noch kein wirklich überzeugendes Buch. Sehr bedauert habe ich, dass die Erzählperspektive des Schattens im weiteren Verlauf des Buches viel, viel zu kurz kam. Manchmal waren es nicht mehr als kurze Einschübe in ganz plötzlich auktorial erzählten Kapiteln. Sehr schade! Das hat den Lesefluss deutlich gehemmt.
Ferner war mir nicht ersichtlich, warum aus dem erfundenen Alchemisten-Buch so planlos und wirr „zitiert“ werden musste. Erst aus Kapitel 15, dann Kapitel 5, dann wieder ganz anders. Ein wenig „bemüht“ wirkte es auch, dass die Zitate immer genau zu dem vorangegangenen Kapitel und dem Geschehen darin passten. Sicher war dies ein bequemes Mittel für den Autor, dem Leser diese Welt zu erklären. Aber es hat ihn auch ein wenig übermütig werden lassen, was die Detailfülle dieser magischen Welt anging. Noch eine Idee für die Schattenwelt? Kein Problem, das erklären wir durch das mittelalterliche Buch. Immer mehr und immer mehr kam hinzu, so dass ich gegen Ende aufgegeben habe, ob diese Welt und die erzählten Geschehnisse noch „logisch“ sind.
Auch der „Rat“ hat im Laufe des Buches für mich an Charme verloren. Und zwar dadurch, dass er einfach zu oft zusammenkam. Es hatte gegen Ende schon fast etwas Komisches. Immer wieder besorgte Einwürfe, ernste Mahnungen, spitze Kommentare. Gelöst oder vorangebracht wurde dadurch aber nur selten etwas.
Tja, und dieser Jonas… sein Schatten stellt ihn das ganze Buch hindurch als etwas Außergewöhnliches dar. Doch liest man zwischen den Zeilen, und folgt man den erzählten Geschehnissen, scheint Jonas einfach nur ein Sonderling gewesen zu sein. Das ganze Buch hindurch vollbringt er eigentlich – nichts. Es widerfährt ihm nur immerzu etwas. Und erst ganz gegen Ende entschließt er sich zu einer vermutlich heldenhaften Tat. Das kam für mich zu spät, und hat nicht zu seiner sonstigen Charakterisierung gepasst. Überhaupt hat Jonas für mich nicht zu einem „runden“ Charakter werden wollen.
Doch dies ist schließlich kein reiner Verriss – oder soll es zumindest nicht sein. Die Leseprobe hatte für mich noch stimmig geklungen. Doch der Autor hat sich für meinen Lesegeschmack ein wenig zu sehr in seiner Idee verrannt, und die tatsächliche Lesbarkeit übersehen. Es wird viel zu sehr nacherzählt, viele Informationen werden nachgereicht. Detailfülle statt authentischer Charakterisierung, weniger Roman, als Abenteuer-Chronik. Und deswegen ist dies für mich ein Jugendbuch.