Cranford ist ein eher kleiner Roman, vom Umfang her gesprochen, tatsächlich ist er ein Kosmos von beträchtlichen Dimensionen. der Roman erschien ab 1851 in der Zeitschrift Household Words, die von Charles Dickens herausgegeben wurde, und 1853 dann in Buchform.
Cranford ist der Name einer fiktiven Kleinstadt im Nordwesten Englands und im Roman wird vom Leben in dieser kleinen Stadt erzählt. Nichts besonderes, mag man denken, bevor man das Buch aufschlägt und den ersten Satz des ersten Kapitels liest, der eigentlich mindestens so bedeutsam ist, wie die ersten Sätze einer Autorin eine Generation vor Gaskell, Jane Austen. In the first place, schreibt Gaskell, Cranford is in the possession of the Amazons; all the holders of the houses of a certain rent are women.
In diese Welt von Frauen, die eben genug Geld besitzen, sich ein Häuschen leisten zu können, wird man geführt.
Erzählt wird das Ganze von einer lange namenlos bleibenden Erzählerin, die mit den Frauen de Städtchens gut bekannt ist. Die Erzählerin ist entweder vor Ort, weil sie einen Besuch abstattet, oder aber sie hört aus Briefen ihrer Bekannten von dem, was vor Ort passiert. Die Geschehnisse scheinen völlig dem Alltag verhaftet. Die Damen werden vorgestellt, man besucht sich, zum Tee oder zum Kartenspiel. Langsam kristallisieren sich Eigenschaften und vor allem Eigenheiten heraus, Zusammenhänge, Verbindungslinien, Hintergründe.
Im Mittelpunkt stehen die ältlichen Schwestern Deborah und Matilda Jenkyns, Töchter des längst verblichenen Pfarrers von Cranford. Die ältere, Deborah, ist befehlsgewohnt und durchsetzungsfähig, sie gilt als überaus belesen, was die erbauliche Literatur angeht, und hat daher großen Einfluß auf die Frage, was sich gehört und was nicht. Ihre jüngere Schwester, die Miss Deborah grundsätzlich ‚Matilda’ nennt, der Würde wegen, obwohl Matty eben diese Namensform vorziehen würde, steht nicht nur in dieser Frage unter ihrem Pantoffel.
Um die beiden herum gruppieren sich ihre Freundinnen, Miss Barker, deren Lebensinhalt eine Milchkuh ist, Miss Pole, die stets über alles als erste informiert ist, aber auch Mrs. Jamieson, die rein vom Stand her gesehen, über den Jenkyns Schwestern steht - sie darf den Titel ‚Honorouble’ tragen - , aber auch Frauen wie Martha, das Hausmädchen der Jenkyns Schwestern. Standesgemäße Männer gibt es nur wenige, den Arzt, einen neuen Nachbarn. Sie werden beäugt, es gibt den einen oder anderen gesellschaftlichen Berührungspunkt, aber die Damen bleiben mißtrauisch, auch wenn sie einmal verheiratet waren.
A man is so in the way in the house, sagte einmal eine in freundlichster Überzeugung, und hin und wieder bekommt man den Eindruck, als gelte die eigentlich niederschmetternede Erkenntnis auch für außerhalb des Hauses. Männer sind ein Kosmos, den es zwar gibt, ohne den man aber auch leben kann, und zwar nicht schlecht.
Die Ereignisse in Cranford sind alltäglich, zugleich aber seltsam, ein wenig romantisch und nicht selten skurril. Das liegt am Blickwinkel der Damen. Sie haben, wenn überhaupt, eine höchst beschränkte Allgemeinbildung, ihr Blick reicht nicht über die Stadtgrenzen hianus, wozu auch, fragen sie sich. Natürlich ist es woanders anders, da sind sie großzügig, aber was, bei allem, was recht ist, hat das mit Cranford zu tun?
Erzählt wird nicht-linear. Die Erzählerin beginnt mit einem beliebigen Detail, einem Ereignis, einer Aussage, nur um von da aus mal dahin zu wandern, mal dorthin. Ein weiteres bißchen Information wird angeführt, bei einem scheinbar beliebigen Detail verweilt, das wiederum die Assoziation an etwas Drittes hervorruft, das in der Folge ausführlich beschrieben wird. Die Gechichten mäandern, verzweigen sich, recken sich scheinbar ins Nichts.
Tatsächlich ist das eine höchst genaue Wiedergabe der Erzählweise von Menschen im Alltag, wenig strukturiert, Ablenkungen unterworfen, elf von zehnmal am Thema vorbei, weil nicht allein die Informationsübermittlung wichtig ist, sondern der Kontakt mit dem Gegenüber. Diese Erzählweise macht Cranford zum modernsten Roman Gaskells. Sie arbeitet geplant und genau. Vielfach endet das Kapitel exakt beim Ausgangspunkt, die offenen Fragen sind dann beantwortet. Lose Fäden werden äußerst geschickt unaufdringlich weitergeführt, um in einem der folgenden Kapitel oder spätestens ganz am Ende endgültig verknüpft zu werden.
Die Plaudereien sind nur ihrem Anschein nach harmlos. Im Lauf der Seiten zeigt sich schnell, worum es Gaskell geht. Es ist nicht ein sentimentales Porträt ein untergegangen Zeit, es ist keine Komödie mit einer Gruppe schrulliger Frauen. Es ist die Beschreibungen eines ganz eigenen Sozialverhaltens einer Gruppe von Frauen, denen die Bedingungen und Unfreiheiten ihrer Zeit Beschränkungen aufgelegt haben, die einfach nur unwürdig sind. Diese Enge, räumlich, denkerisch, ökonomisch, ist das leise Grauen, das im Hintergrund lauert, hinter der Naivität, der rührenden Freundlichkeit, dem Bemühen, das Leben zu meistern, wähernd man langsam älter wird und auf den Tod wartet. Würde zu bewahren unter entwürdigenden Lebensbedingungen. Das ist ein Amazonenkampf. Es gibt keine zweite Autorin, die dieses Leben so sehr als Krieg erkannt hat, den man unter den gegebenen Bedinungen nur in der Kapitulation gewinnen kann.
Faszinierend für LeserInnen von heute ist das Gruppenverhalten der Frauen. Keine ist bösartig, ihre gelegentliche Selbstsucht hat ihren Grund eher im Unwissen als in dem Bestreben, die Erste und Beste zu sein. ‚Friedliches Zusammenleben’ ist das oberste Gesetz. Miteinander auskommen, weil Streit unglücklich macht. Es wird Diplomatie getrieben, wenn es mal unterscheidliche Meinungen gibt oder gar Verstöße gegen das, was sich in Cranford. gehört. Der jweilige Stand wird streng beachtet, Snobismus aber wird unter Auferbieten aller zur Verfügung stehenden Mittel (sie sind überraschend!) unterdrückt.
Man macht die Freundin glücklich, wenn man vorgibt, daß ihre Teekuchen die köstlichsten sind, obwohl man weiß, daß sie sich als Geldmangel nur das leisten kann, was die anderen auch anbieten. Als Miss Pole einmal erkältet ist und keine Neuigkeiten übermitteln kann, halten die Erzählerin und Miss Matty etws, das sie wissen, zurück, bis Miss Pole wieder gesund ist, damit diese ihren Rang als wandelndes Nachrichtenblatt nicht einbüßt. Man ist tolerant gegenüber Fremden, wahrt die guten Manieren selbst, wenn sie gegen herrschende Grundsätze verstoßen. Ausgeschlossen wird niemand. Jede der Frauen fürchtet nichts so sehr wie die Einsamkeit, weil sie wissen, daß niemand allein überleben kann.
Die Freundlichkeit, mit der erzählt wird, hat den Roman zu einem der beliebtesten aus seiner Zeit gemacht. Zugleich führt sie dazu, daß man das Buch als nostalgische Erzählung von einer Gruppe putziger älterer Frauen in umständlichen Kleidern und mit umständlicher Redeweise einschätzt. Das hieße einen wachen Blick auf den Alltag von Frauen einer bestimmten Gesellschaftsschicht im England um die Mitte des 19. Jahrhunderts gewaltig zu unterschätzen. Die Geschichten aus Cranford haben viel von einem Protokoll. Einem Frontbericht. Aus einem Krieg, der nahezu unbemerkt tatsächlich gekämpft wurde. Mit den Waffen, wie sie in einem Cranford eben zur Verfügung standen.