Moskau Bel Etage - Grigori Rjaschski

  • OT: Dom obrascovogo soderzanija
    Erschienen Orginal 2004, detsche Übersetzung HC 2009/ TB 2010
    391 Seiten
    ISBN- 13: 9783462042436


    Kurzbeschreibung:


    "Vielleicht lebt ja etwas Gutes von unseren Großmüttern und Großvätern in unseren Kindern und Enkeln weiter." Ljudmila Ulitzkaja in ihrem Vorwort.
    Ein Jahrhundert russischer Geschichte durchströmt die Maisonettewohnungen in bester Moskauer Lage. Mit den Machthabern wechseln die Bewohner, nur Rosa Mirskaja, die Frau des Architekten Semjon Mirski, bleibt über all die Jahre mit Herzenswärme, gestärkten Tischdecken und jüdischem Gebäck der ruhende Pol im Leben der Mirskis und ihrer Nachbarn - über alle familiären Krisen und historischen Umstürze hinweg.
    Gleich bei den Patriarchenteichen, dort, wo die Geschichte vom "Meister und Margarita" ihren Ursprung nahm und wo heute Moskaus neue Mitte erwächst, steht der Inbegriff Moskauer Jugendstils, erbaut von Semjon Mirski, Architekt und angesehenes Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Dort wohnt auch der Erbauer selbst mit seiner Frau, Rosa Markowna Mirskaja, in direkter Nachbarschaft zu den hohen Persönlichkeiten der Zeit.
    Doch wer angesehen ist und wer nicht, ändert sich mit den Zeitläufen, und so verändert sich auch die Nachbarschaft der Mirskis zwischen den Jahren der Oktoberrevolution und dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrfach. Und auch in der Familie Mirski geraten die jüdischen Traditionen von einer Generation zur nächsten immer mehr ins Wanken, wäre da nicht der beharrliche Wille der Mutter, Groß- und Urgroßmutter Rosa, die mit unendlicher Geduld die Familie zusammenhält.
    Angelehnt an die Geschichte der russisch-jüdischen Familie Ginzburg, der er selbst wie auch seine Cousine Ljudmila Ulitzkaja entstammt, entwirft Grigori Rjaschski ein lebendiges Panorama der russischen Gesellschaft im Wandel der Zeiten.


    Über den Autor:


    Grigori Rjaschski ist ein in Russland bekannter Filmproduzent und Drehbuchautor. Er fand erst spät zur Literatur, hat aber inzwischen einige Romane veröffentlicht.Ganna-Maria Braungardt,
    geboren 1956 in Crimmitschau, Studium in Woronesh, übersetzt seit 1991 aus dem Russischen, u. a. Werke von Ljudmila Ulitzkaja, Boris Akunin und Polina Daschkowa.


    Meine Meinung:


    Man könnte das Buch als Familienroman werten, auch als Roman über 100 Jahre russische Geschichte vom Anfang des 20. Jahrhunderts, bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts, von der Zarenzeit bis zu den Revolutionen, Stalinismus und Umbruch Gorbatschov und dem Turbokapitalismus mit Russenmafia nach dem Zusammenbruch des Sowjetstaates. Könnte man, trifft es auch beides, aber beides eben nicht so ganz.
    Die Funktion der Zentralfigur teilen sich hier eine Frau, Jahrgang 1903, die wir als Leser an ihrem hundertsten Geburtstag im Jahr 2003 wieder auf der letzten Seite des Buches verlassen und ein Haus, gebaut 1903, von dessen Bewohnern die eine eben nur eine ist. Dieses Haus ist der feste Anker um das sich alles dreht und das alle Begehrlichkeiten beinhaltet, der feste Punkt in dem sich Leben abspielt und um den sich Leben dreht. Zu Zeiten von Wohnungsbewirtschaftung spielt so ein Haus eine nicht unwesentliche Rolle. Jugendstil, jede Wohnung eine Maisonettewohnung und in Moskau Zentrum. "Verführung mittels einer Wohnung im Stadtzentrum", lautet ein zentraler Satz. Gebaut hat das Haus der berühmte Architekt Semjon Mirski, er lebt dort mit seiner Frau Rosa, ein großbürgerliches jüdisches Ehepaar, dessen Schicksal durch die Zeitläufte Rjaschski beschreibt, insbesondere das von Rosa aber eben auch das aller Mitbewohner, die im Laufe dieses Jahrhunderts dieses Haus bewohnen und derer, die es aus den unterschiedlichsten Gründen auch verlassen müssen. Eine nicht unwesentliche Rolle spielt auch die Begegnung des berühmten Architekten Semjon Mirski in Paris mit einem talentierten unbekannten jungen Maler namens Pablo Picasso, in deren Verlauf der eine dem anderen einen Entwurf für eine Statue berichtigt, damit die Statik stimmt und der andere ein Bild verschenkt und widmet, dass die folgenden Jahre in der Wohnung der Mirskis an der Wand hängt. Ein Bild, das aufgrund seiner kubistischen Darstellung abstösst oder aufgrund seines Wertes Begehrlichkeiten schafft.


    Manches verwundert uns heute stark- wie sehr z.B. der Gegensatz hie jüdische Familie, hie Russen, sich durch die Jahrzehnte zieht, völlig unabhängig vom Gesellschaftssystem. Manches kommt bei aller Fremdheit wieder altbekannt vor, der Mensch ist eben immer Mensch egal wo oder unter welchen Umständen er lebt, zu großem fähig aber auch der Wolf des Menschen.


    Mich wundert, dass anscheinend noch keine Eule das Buch gelesen hat, seinerzeit als es im Hardcover erschien war es durchaus intensiv im Feuilletonteil mancher großen Zeitung ein Thema. Ich kann es nur jedem empfehlen, der ein lebendiges Panorama der letzten hundert Jahre in Russland in interessanter, unterhaltsamer Art geniessen will. Eine Warnung noch, 391 Seiten klingt eher überschaubar, das Buch ist aber recht klein gedruckt, liest sich also eher langsam, aber es lohnt sich unbedingt.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übersiet :grin


    :lesend  :lesend

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  • Zitat

    Original von beowulf
    Mich wundert, dass anscheinend noch keine Eule das Buch gelesen hat, seinerzeit als es im Hardcover erschien war es durchaus intensiv im Feuilletonteil mancher großen Zeitung ein Thema. Ich kann es nur jedem empfehlen, der ein lebendiges Panorama der letzten hundert Jahre in Russland in interessanter, unterhaltsamer Art geniessen will. Eine Warnung noch, 391 Seiten klingt eher überschaubar, das Buch ist aber recht klein gedruckt, liest sich also eher langsam, aber es lohnt sich unbedingt.


    Das wundert mich inzwischen auch, denn seit Deiner Rezi ist es doch noch schon einige Zeit her. Ich habe das Buch gestern begonnen und bin fasziniert von der Erzählkunst des Autors.


    So klein gedruckt - ich besitze die HC-Ausgabe - empfinde ich das übrigens nicht; allerdings ist der Satzspiegel recht groß, also dadurch viel Text auf einer Seite (zwei Zeilen weniger täten dem Auge gut). Die ausgefeilte Sprache erfordert aber auf jeden Fall ein genaues Lesen und nicht nur "Darüberhinweglesen", was ich aber als positiv verstanden wissen möchte. Mehr, wenn ich durch bin.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich lebe, dachte sie, sie lebt noch, die alte Mähre, sie atmet und stößt sogar Dampf auf, wie eine Lok auf dem Abstellgleis, der man noch einmal eingeheizt hat. (Seite 123)


    Meine Meinung


    Was für ein Buch! :anbet


    Wodurch ich auf dieses Buch aufmerksam geworden bin, weiß ich nicht mehr. Und letztlich ist das auch egal, es hat seinen Weg zu mir gefunden und sämtliche Erwartungen übertroffen. „Ein Panorama der russischen Gesellschaft im Wandel der Zeiten“ heißt es im Klappentext, und selten hat ein Verlagstext mehr auf ein Buch zugetroffen, wie es hier der Fall ist.


    Der Roman hebt rückblickend im Jahre 1903 an und spannt einen Bogen über hundert Jahre bis ins Jahr 2003 - hundert Jahre mit Freud und Leid, vom zaristischen Rußland über die Sowjetunion hin zum Rußland unserer Tage. In all den Umwälzungen und dem Chaos, das diese lebhaften Zeiten mit sich bringen, gibt es einen, eigentlich zwei, ruhende Pole: das Haus in der Trjochprudny-Gasse und seine Bewohnerin Rosa Markowna. Ihr Mann hatte das Haus einst erbaut, war ein anerkannter und berühmter Architekt, aber wie das zu Stalins Zeiten so war, hat ihm das letztlich auch nicht mehr viel genützt.


    Und so bleibt Rosa Markowna, die letzte, die die jüdischen Traditionen ihrer Familie hoch hält und versucht, diese nebst Sitte und Anstand über die Jahre und Jahrzehnte hinweg auf die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Was ihr mal mehr, mal weniger gelingt. Wie ein Fels in der Brandung steht sie fest, läßt alles an sich abprallen und versucht, ihre kleine Welt zu halten und einen guten Einfluß auszuüben. Viele Rückschläge und Enttäuschungen muß sie im Laufe der Jahre hinnehmen, doch sie ist aus hartem Holz geschnitzt, unterkriegen läßt sie sich nicht.


    Immer wieder ziehen neue Mieter in das Haus, nicht immer werden die Wohnungen auf „normalem“ Wege frei und im Laufe der Jahre entpuppt sich sogar ein KGB-General als liebenswerter Nachbar. Es geht Auf und Ab, als Leser erleben wir ein Jahrhundert Zeitgeschichte hautnah mit und sind manchmal froh, daß nur wir wissen, wie die Dinge wirklich zusammen hängen und Rosa Markowna so manche Enttäuschung erspart bleibt, die ihr am Ende möglicherweise doch ihr gutes Gemüt geraubt hätte.


    Ein Buch, das vom Hauch der Geschichte durchweht wird, über dem auch an Sonnentagen eine leichte Melancholie liegt und das bei allem Schrecken doch niemals eine positive Grundstimmung verleugnen kann. Ein Buch, das schlimme Zeiten schildert, bis hin zu üblen Gestalten der Russenmafia unserer Tage, und in dem eine Frau wie Rosa Markowna zeigt, daß auch solche Zeiten mit Anstand und Würde zu überstehen sind, daß man sich sein eigenes kleines Glück auch unter widrigsten Umständen schaffen und erhalten kann.


    Ein Buch, das mich von Anfang an tief in seinen Bann gezogen und fasziniert hat, woran gewißlich auch die überaus gelungene Übersetzung (soweit ich das beurteilen kann) ihren Anteil hat.


    Ein Buch, welches ich so schnell nicht mehr vergessen kann.


    Was für ein großartiges Buch! :anbet :anbet



    Mein Fazit


    Ein grandioses Panorama des Hauses in der Moskauer Trjochprudny-Gasse und seiner Bewohner im Verlauf von nahezu hundert Jahren. Eines der besten Bücher, das ich je gelesen habe.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Danke für deine Rezi SiCollier. Das Buch habe ich mir damals nach der Rezi von beo gekauft und es schlummert seitdem hier im Regal. Jetzt wird es aber demnächst an die Reihe kommen. Es gibt noch so viel zu lesen, ich glaube, ich werde niemals vor einem abgebauten SUB stehen... :-)