"Wir tun es trotzdem", sagt Marie eines Tages zu Karen, ihrer jüngeren Schwester. "Aber es muß unser Geheimnis beleiben. Vater darf es nicht erfahren." Und so stehlen sie sich eines Samstags davon und gehen wieder ins Café. Essen dort Schmalzküchlein, singen und sind seit langem mal wieder richtig froh. Wenn Vater nur wieder mitkommen würde! Und dann lernen sie noch Signe, die neue Kellnerin, kennen...
Torril Eide, eine norwegische Psychologin und Autorin, schreibt neben Erzählungen vor allem Jugendbücher, in denen dankenswerter Weise keine Schulpsychologie vorkommt.
Maries Geheimnis ist der deutsche Titel einer sehr schönen Erzählung, die auf norwegisch viel schlichter: 'Die Tochter des Bahnwärters' heißt. Das etwas altmodische Wort im Originaltitel ist ein kleiner Hinweis darauf, daß die Geschichte nicht heute spielt, sondern 'früher', genauer kurz nach dem ersten Weltkrieg.
Der Bahnwärter, der Vater, ist Witwer, seine Frau, die Mutter von Marie und ihren beiden Geschwistern, starb in der großen Grippewelle nach dem Krieg. Die Familie leidet sehr unter ihrem Tod, alles ist durcheinander, nicht mehr so wie vorher. Marie, knapp zwölf Jahre alt, übernimmt die Rolle der Hausfrau. Stolz und trotzig kämpft sie darum, die Familie zusammenzuhalten. Sie putzt, kocht, erzieht die jüngere Schwester und geht dabei auch noch zur Schule. Der Alltag, die reine Mühe der täglichen Arbeit, vom morgendlichen Feuermachen und Wasserholen über die 'große Wäsche', dem Hühnerfüttern oder den Kampf gegen die Kopfläuse, sind beeindruckend realistisch beschrieben.
Überzeugend ist auch die Entwicklung Maries. Zunächst noch regelrecht davon besessen, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen, lernt sie allmählich zu verstehen, daß nichts rückgängig zu machen ist. Die Mutter wird nicht wiederkommen und auch der kleine Bruder nicht, der weit weg bei Verwandten aufwächst. Ebenso lernt sie, daß man mit reinem Stolz nicht weiterkommt. Man muß Hilfe akzeptieren, die der Nachbarin beim Wäschewaschen oder aber, ganz wichtig, die der kleinen Schwester, die gleichfalls erwachsener wird und der man auch Verantwortung übertragen kann. Vor allem aber lernt sie, daß man ein Recht auf Glück hat. Daß das kein Verrat ist gegenüber den Toten. Und daß man andere in sein Glück miteinbeziehen kann, die kleine Schwester etwa, mit der man die heimlich gekaufte Tüte Bonbons teilt, den Vater, dem man die neue Freundin, die Kellnerin Signe, vorstellt.
Natürlich wird das Glück am Ende vollkommen. Doch es ist ein anderes Glück, ein neues. Darum ist es aber nicht weniger wertvoll.
Ein wunderschönes Buch.