Wie gut muss Recherche sein

  • Hätte mich das jemand vor ein paar Jahren gefragt, hätte ich gesagt: Nein, um Himmels willen, das geht gar nicht, wie soll denn das funktionieren?
    Inzwischen habe ich - peinlicherweise - gelernt: Für mich geht es gar nicht. Für mich funktioniert es gar nicht. Für andere schon.
    Ich kann das nicht - ein Ort, auf den ich mich nicht gehockt, den ich nicht in den Händen und in der Nase gehabt habe, setzt bei mir nichts in Gang. Inzwischen ist mir aber klar, dass das viel mehr mit meiner Phantasie (oder dem Mangel daran) zu tun hat als mit der Notwendigkeit dieser Art von Recherche.
    Ich habe vor ein paar Jahren einen historischen Roman lektoriert, der in Apulien spielt (Friedrich II, ja, genau), wo ich viel Zeit verbracht habe, und war begeistert, weil ich so viele Details wieder erkannte und dieses typische Zitronen-ueber-trockener Erde von Puglia-im-Februar aufkam. Dazu habe ich dem Autor gratuliert und wollte mich gern über Puglia-Insights austauschen ... Seine Antwort: "Ich muss Sie enttäuschen. Ich war da noch nie."
    Dass mich das verblüffte, verblüffte wiederum ihn. So wie ich nicht glauben konnte, dass er wirklich nie da gewesen war, konnte er nicht glauben, dass ich das so schwer fand: Sich an einen Ort zu träumen, nachdem man etliche Texte dazu gelesen und Bilder betrachtet hat.
    Er konnte. Ich kann nicht.
    Zur Zeit lektoriere ich einen Roman, der im Atlas-Gebirge spielt, das ich sehr liebe. Wenn ich an dem Text arbeite, zappele ich mit den Füßen, weil es noch viel zu lange dauert, bis ich wieder dort bin - ich habe das Gefühl, Atlas-Licht im Zimmer zu haben und Atlas-Trockenheit in der Nase. Gestern telefonierte ich mit dem Autor und erzählte ihm, dass wir auch Fans des Atlas-Gebirges wären, aber von Marokko aus aufgebrochen und blabla ... er unterbrach meinen Wortschwall mit der Frage: "Ist es schön dort?"


    Tja.


    Ich glaube, das ist die einzige Antwort darauf: der eine kann, der andere kann nicht, und in welche Gruppe wer gehört, hängt davon ab, wie viel Vorstellungskraft er ohne haptisch-sinnlichen Kontakt mit dem Ort selbst aufbringen kann. Alles andere lässt sich recherchieren - aus Texten, Bildern, Filmen, Musik, Gerichten etc. der Region, aus der Fülle von Informationen im Internet, aus Befragungen von Bewohnern und Reisenden, aus Besuchen in Kulturzentren, Restaurants, Museen, Veranstaltungen. Das ist ja dann auch alles ein bisschen haptisch-sinnlich und fuer fantasievolle Autoren sicher ein völlig ausreichender Ersatz.
    Wichtig finde ich persönlich, nicht abzuschreiben, was andere aus zweiter Hand erlebt haben, sondern sich möglichst viele Quellen aus der Region selbst zu beschaffen. Mir macht das auch mehr Spass. Aber vielleicht ist ja auch das bei jedem anders.

  • Der Umfang der notwendigen Recherche hängt (meiner Meinung nach) auch immer vom Genre ab, in dem der Roman spielt. Wenn dein Roman in der Isle of Skye spielt, dann halte ich Recherche schon für sehr bedeutsam. Auch (oder speziell) für die Leute, die eben noch nie dort waren, damit deine Leser ein Gefühl für die Umgebung kriegen, in der der Roman spielt. Da spielen dann auch Dinge wie das dortige Wetter oder die Architektur eine Rolle.
    Wenn ich von mir persönlich ausgehe (als Beispiel), da war Recherche bisher eher von untergeordneter Bedeutung, da man bei SF und Fantasy sich seine eigenen Welten erschaffen kann und in der Gestaltung relativ frei ist. Allerdings hab ich vor Kurzem einen Roman geschrieben, der im Mittelalter spielt und da waren (verglichen zu den früheren Arbeiten) für mich ungewohnt viel Recherche notwendig. Aber auch das hat seinen Reiz.