Der Hase mit den Bernsteinaugen - Edmund de Waal

  • Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi.
    Zsolnay, 352 Seiten


    Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer


    Kurzbeschreibung:
    Paris-Wien-Odessa: Die Ephrussi zählten zu den vermögendsten und einflussreichsten Familien Europas. Ein Nachfahre erzählt nun ihre dramatische Geschichte.
    Dieses weltweit gefeierte Buch ist weit mehr als eine außergewöhnliche Familiengeschichte, es ist eine Wunderkammer, eine brillant geschriebene Erkundung über Besitz und Verlust, über das Leben der Dinge und die Fortdauer der Erinnerung.


    Über den Autor:
    Edmund de Waal wurde 1964 in Nottingham geboren und studierte in Cambridge. Er ist Professor für Keramik an der University of Westminster und stellte u.a. im Victoria and Albert Museum und in der Tate Britain aus. Er lebt in London.


    Mein Eindruck:
    Ein schön aufgemachtes Buch mit Leseband und Stammbaum der jüdischen Familie Ephrussi. Im Buch sind Fotos und Zeichnungen verteilt, die zusätzlich ein Gefühl für die Zeit geben. Wirklich Edel!


    Es ist durchaus passend, dass in dem Buch ein Zitat von Marcel Proust vorangestellt ist und dass Colm Toibin das Buch preist. Genau wie diese beiden Schriftsteller schreibt auch Edmund de Waal unaufgeregt und ruhig.


    Das Buch ist ja schon jetzt ein Erfolg. Der Grund liegt sicherlich darin, dass der Autor einen Ton getroffen hat, der anspricht.
    Ausgehend von der von einem Großonkel geerbten Miniatur-Schnitzerei-Sammlung spürt der Autor der Geschichte der Familie Ephrussi nach. Er schildert das Paris des 19.Jahrhundertts mit dem Sammler Charles Ephrussi. Charles ist reich und Jude. Der Autor stellt einen Vergleich mit der großen Figur von Marcel Proust her: Swann
    Es wird die Zeit des Impressionismus lebendig. Renoir, Degas Gustave Moreau treten direkt oder indirekt auf. Auch Marcel Proust gehört zum Bekanntenkreis.
    Neben der vornehmen Salonatmosphäre sind aber auch schon erste Anzeichen von Antisemitismus vorhanden.


    Dann recherchiert der Autor der Jahrhundertwende in Wien weiter.
    Hier rückt Elisabeth Ephrussi kurzzeitig in den Vordergrund. Sie war Anwältin und Dichterin und mit Rilke bekannt. Eine beeindruckende Frau, die nachdem sie Wien verlassen hatte, in der Zeit des Faschismus zurückkehrte, um ihre Eltern heraus zuholen und dann in die Schweiz ging. Manche Figuren bekommen wenig Raum, um mehr als nur oberflächlich vorgestellt zu werden. Elisabeth gehört zum Glück nicht dazu. Und nach dem Krieg ist es Iggy Ephrussi, der nach Japan geht. Gut gemacht, wie sich der Kreis schließt, auch wenn es dann noch kurz nach Odessa und London geht.


    Manche Abschnitte haben mich mehr gepackt als andere, aber insgesamt ein interessantes Buch.


    ASIN/ISBN: 342314212X

  • Das Buch mag ja toll sein, e-book- Fans können es aber nur auf Englisch kaufen.


    Eine deutsche Version ist laut Verlag auch nicht geplant. Angeblich wegen der Fotos. Das finde ich sehr schade, denn ich würde gerne doch selbst entscheiden, ob ich für die -enormen - Vorteile des Kindle akzeptiere, dass ich die Fotos nur in schwarz- weiß sehen kann.

  • Zitat

    Original von Caruso
    Das finde ich sehr schade, denn ich würde gerne doch selbst entscheiden, ob ich für die -enormen - Vorteile des Kindle akzeptiere, dass ich die Fotos nur in schwarz- weiß sehen kann.


    Das Buch enthält ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotos!:wave Ich kenne mich zwar mit eBooks überhaupt nicht aus (was auch so bleiben wird), kann mir aber nicht vorstellen, dass sie etwas anderes als reine Textformate wiedergeben können! Oder täusche ich mich da? :gruebel

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  • Meine Meinung: Edmund de Waal schildert in diesem Buch die Geschichte seiner Familie väterlicherseits, der reichen jüdischen Familie Ephrussi, deren Reichtum mit dem der Rothschilds vergleichbar war. Es sind 264 kleine Netsukes (japanisches Schnitzereien), die eine große Rolle in dieser Biographie spielen. Diese Schnitzereien befinden sich seit dem 19. Jahrhundert im Besitz der Familie und werden immer weiter vererbt. Als es nun an ihm ist, das Erbe anzutreten, beginnt er mit seiner Recherche, um den Weg der Schnitzereien und damit ihrer Besitzer aufzuzeigen. Damit gelingt es ihm, ein plastisches Bild der Gesellschaft im Wandel der Zeit zu vermitteln.

    De Waal geht seine Suche auf eine sehr präzise und analytische Weise an. Ihm ist nicht daran gelegen, eine „sepiagetönte Familiensaga“ abzuliefern - Rückblicke voller Nostalgie und Melancholie sind ihm zu dünn und so wählt er eine andere Form der Herangehensweise an dieses Thema. Eine oberflächliche Recherche mit Google-Versatzstückchen reicht ihm nicht aus, deshalb begibt er sich persönlich auf die Reise zu den Orten, will ein Gefühl für die Räumlichkeiten, für die Gegenstände der Vergangenheit bekommen. Ihm geht es um die Genauigkeit der Bilder und die Haptik spielt bei dem Professor für Keramik eine große Rolle.


    So tritt er eine Zeitreise der besonderen Art an, die ihn zu den unterschiedlichsten Standorten der Netsukes bringt und er begreift und erlebt an diesen Orten die Vergangenheit seiner Familie als sehr real.
    Der Stil dieses Buches ist nüchtern und von großer Sachlichkeit geprägt, trotzdem oder genau deshalb berühren die einzelnen Geschehnisse, geben einen klaren Blick auf die Gesellschaft der damaligen Zeit.


    Ihm ist mit diesem Buch eine außergewöhnliche Familienchronik gelungen, die ohne verklärte Bilder auskommt, und die sich voller Faszination lesen lässt.

  • Dies ist eine anspruchsvolle Familienchronik. Eher ein Sachbuch, kein Roman.
    Ich hatte ihn zunächst als solchen verstanden und war deshalb auch vom nüchternen Stil einer Biographie eher enttäuscht.
    Trotz einer für diese Verhältnisse sehr große Empathie, mit der de Waal seine Vorfahren beschreibt, konnte ich doch nicht so recht Zugang zum Buch finden.
    Mir war es einfach zu sachlich.
    Der Autor wollte ja auch bewusst keine Roman-Erzähl-Kitsch-Chronik schreiben ("...so einfach wollte ich es mir nicht machen...", sagte er in einem Interview), aber das ist eben auch das Gewöhnungsbedürftige an diesem Roman.

  • Ich bin recht lange um dieses Buch herumgeschlichen; erst zwei Artikel dazu in der ZEIT bzw. im ZEIT Magazin haben mich dazu bewogen, es zu lesen – und irgendwie war ich auch bis zur Lektüre davon überzeugt, es handle sich mehr um einen Roman denn um eine doch recht sachliche Familienbiographie … :gruebel


    Netsuke – das sind japanische Miniaturen wie der titelgebende Hase mit den Bernsteinaugen.
    Der Keramikkünstler Edmund de Waal erbt 264 solche Miniaturen von seinem Großonkel Iggie, der lange Jahre in Japan gelebt hat. De Waal macht sich auf die Suche nach dem Ursprung der Netsuke und damit auch nach der Geschichte seiner Familie, den Ephrussis, jüdisch und kosmopolitisch, kunst- und literaturinteressiert.


    Von Odessa über Paris nach Wien und von dort nach England und Japan führen von Generation zu Generation die Wege der Ephrussis – und die der Netsuke, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Charles Ephrussi, dem Kunstsammler und Mäzen, in die Familie kamen. Durch alle Höhen und Tiefen zeichnet de Waal die Geschichte seiner Familie nach, die finsteren Jahre des Dritten Reichs eingeschlossen.


    Herausgekommen ist dabei nicht nur eine Familiengeschichte – sondern auch eine Chronik Europas zwischen Blüte und Zerfall und Neuanfang und eine kurze Geschichte Japans nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine kleine Kunstgeschichte ist es auch geworden, mit Exkursen in die Psychologie und Soziologie der Kunst und der Kultur. Und auch eine Geschichte darüber, wie tief verwurzelt und wie spürbar der Antisemitismus in Europa schon lange vor Hitler war.


    De Waal zeigt sich dabei als eifriger und akribischer Spurensucher, als ebenso einfühlsamer wie ehrlicher Chronist. Besonders gefiel mir die persönliche Komponente de Waals bei der Schilderung seiner Familiengeschichte: wie es ihm auf dieser Spurensuche erging, was er dabei dachte und fühlte, die Missgeschicke, die ihm dabei unterliefen oder die Fehler, die er dabei seiner Ansicht nach machte, Unsicherheiten oder Hochstimmungen, die er empfand und die Begegnungen, die er dabei hatte. Das wirkt alles wohltuend echt und unverfälscht und menschlich - und ja, eben sehr persönlich.


    Manchmal hätte ich mir eine umfangreichere Schilderung gewünscht, aber das Minimalistische dieses Buches passt für mich wiederum sehr gut zu der Kunstform der Netsuke und ist daher für mich in sich stimmig. Ein bisschen geärgert habe ich mich, dass de Waal weitaus mehr Bilder von seinen Vorfahren beschreibt als auch im Buch enthalten sind; da hätte ich mir doch ein paar Fotos mehr gewünscht als die im Buch vorhandenen.


    Ob dieses Buch jetzt wirklich ein „masterpiece“ ist, wie es einer der Blurbs auf meiner englischen Ausgabe verheißt, weiß ich noch nicht; das wird sich daran zeigen, wie lange es noch in mir nachhallt.
    Es ist auf jeden Fall ein sehr schönes und besonderes Buch, aus dem ich vor allem die Gedanken über Veränderungen und Vergänglichkeit und über das, was Bestand hat und überdauert, mitnehmen werde.


    Und die Geschichte von Anna, dem Dienstmädchen, die mich mehr als alles andere in diesem Buch tief berührt hat.



    Auf der Website des Autors gibt es übrigens eine kleine Galerie mit rund 30 der Netsuke zum Angucken: Edmund de Waal - Netsuke Gallery

  • Erinnerungen der ganz besonderen Art


    Ephrussi – diesen klangvollen Namen werde ich nach der Lektüre von "Der Hase mit den Bernsteinaugen" so schnell nicht vergessen. Dafür hat Edmund de Waal mit seiner gelungenen Mischung aus Erinnerungsbuch und Biographie über den väterlichen Zweig seiner Familie gesorgt. Ebenso wenig werden mir zukünftig wohl die Netsuke, diese kleinen kunstvollen japanischen Schnitzereien aus Buchsbaumholz oder Elfenbein, aus dem Sinn gehen.


    Aber es brauchte erst eine kleine Aufwärmphase, bis ich mit dem etwas eigenwilligen Stil des Autors warm geworden war. Denn anfangs las sich das Buch ganz anders als erwartet. Statt gleich in die eigentliche Familiengeschichte einzusteigen, nimmt de Waal sich zunächst viel Zeit, um in kunsthistorischen Betrachtungen zu schwelgen. Nebenbei liefert er eine Erklärung, wie er überhaupt auf die Idee zum Buch kam. Den Anstoß dazu gaben nämlich die Netsuke, die Edmund de Waal von seinem Großonkel Iggie vererbt bekam und deren exotische Herkunft ihn, als Professor für Keramik an der University of Westminster, fortan nicht mehr losließen. Durch welche Hände innerhalb der Familie waren die kleinen Handschmeichler gegangen und wo wurden sie aufbewahrt, bevor sie zu ihrem vorerst letzten Besitzer kamen? Diese Fragen bilden den roten Faden, an dem entlang der Autor den Leser durch seine Familienchronik führt.


    Die Ephrussis waren eine aus Odessa stammende jüdische Bankiersfamilie, die nach großen Erfolgen im Getreidehandel um 1850 herum damit begann, ihre Bankhäuser über Frankreich, England und Österreich zu verteilen. Sie waren so einflussreich wie die Rothschilds und ungemein vermögend. Ihnen gehörten palastartige Stadthäuser, ausladende Landsitze in der Schweiz, weitere Besitztümer in Russland usw. usf. Als assimilierte und sehr gebildete Juden passten die Ephrussis sich den herrschenden gesellschaftlichen Normen perfekt an. Offene Anfeindungen und versteckter Antisemitismus wurden von ihnen (mit Ausnahme der Dreyfus- Affäre) ohne Beanstandung hingenommen. Man wollte eben dazu gehören. Es sprach auch alles dafür, dass dieses Ziel von der Familie erreicht worden war. Doch dann kamen in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts die Nazis in Österreich an die Macht und die nachfolgende Schreckenszeit des Dritten Reiches machte auch vor den Ephrussis nicht halt…


    Edmund de Waal bezieht den Leser schon zu Beginn des Buches in seine Suche nach den Ursprüngen der Ephrussis und ihrer Kunstschätze mit ein. Er agiert wie ein Fremdenführer, der noch relativ neu auf seinem Gebiet ist und erst herausfinden muss, wie er am besten dabei vorgeht. Zwischen die biographischen Teile streut der Autor immer wieder Passagen, in denen er beschreibt, wie und wo er recherchiert hat, wer ihm dabei half und inwieweit sich die Orte der Vergangenheit mittlerweile verändert haben. Unter anderem führt die Reise nach Tokio, also ins Ursprungsland der 264 Netsuke, wo Iggie Ephrussi bis zu seinem Tod lebte. De Waal geht durchgehend respektvoll und achtsam bei der Darstellung einzelner Personen und Ereignisse zu Werke. Niemand wird bloßgestellt und somit der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Leser erfährt immer nur soviel, wie er zum besseren Verständnis der Geschichte wissen muss. Besonders interessant fand ich, dass Edmund de Waal den damals in etlichen europäischen Ländern schwelenden Antisemitismus weder wertet noch eine Rechtfertigung für den unermesslichen Reichtum seiner jüdische Verwandtschaft sucht. Seine Darstellung der Ereignisse spricht für sich und verfehlt gerade wegen der Schlichtheit des Stils nicht ihre emotionale Wirkung. Ein paar alte Familienfotos und Illustrationen sowie ein vorangestellter Stammbaum tragen ihren Teil dazu bei.


    Mich hat das Buch von vorne bis hinten überzeugt. Es ist randvoll mit sehr interessanten Informationen zu verschiedenen Kunstobjekten und zur Geschichte einer bedeutenden jüdischen Familie, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Großes erschaffen hatte. Ich erfuhr viel Neues – beispielsweise weiß ich nun, dass Charles Ephrussi (ein Cousin des Urgroßvaters von de Waal) mit Marcel Proust befreundet und ein Mäzen der französischen Impressionisten, insbesondere von Auguste Renoir, war. Indem der Autor seinen Text gleichzeitig aus der Sicht des Kunstschaffenden und des Nachfahren gestaltet, ist ihm ein sehr persönliches, feinfühliges, bewegendes und informatives Werk gelungen. Ich bin beeindruckt!


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  • Edmund de Waal ist Künstler. Er formt Porzellan. Er beschäftigt sich mit Dingen. Auch mit kleinen Dingen. Als er japanische Handschmeichler des 18./19 Jahrhunderts erbt macht er sich auf die Geschichte dieser Netsuke zu erforschen und er erforscht dabei die Geschichte seiner Familie, der reichen jüdischen Kaufmannsfamilie Ephrussi aus Odessa. Russischer Geldadel, dann ernannter Adel. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinauseilend in die Welt der Globalisierung. Paris, Wien, London. Vom Getreidehändler zum Bankier. Erfolgreich und angepasst. Mäzen und selbst Künstler, bekannt mit den Größen der Zeit. Einziger Fehler: eine nicht gelebte, aber ererbte Religion, als es düsterer wird sagt man Rasse dazu. Einziger Fehler: nicht begriffen wie dieses gierige Tier Mensch reagiert wenn man es von der kulturellen Leine lässt. Edmund de Waal beschreibt diese Geschichte seiner Familie über mehrer Generationen sehr sachlich, fast distanziert. Alles was da passiert seinen Urgroßeltern, der Großmutter, dem Großvater hätte über diese Personen auch ein Historiker schreiben können. Nur da wo er von seinen persönlichen Rechercheetgebnissen, seinen Begegnungen mit Zeitzeugen, mir Überlebenden und Dingen berichtet kommen Emotionen hoch. Wenn er im Palais Ephrussi in Wien die Räume betritt oder Gemälde im Museum betrachtet, die einst seiner Familie gehörten. Ein Buch in das ich mich lange einlesen musste und das dafür lange nachwirken wird. Von mir mit neun von zehn Punkten bewertet.