Alles was du versäumt hast - Günter Ohnemus

  • KLAPPENTEXT:
    Tolle Eltern, die beste große Schwester der Welt, einen Promi-Zahnarzt als Großvater; und auf der Straße fallen einem die Mädchen in die Arme (na ja, eigentlich nur eine, und die ist vom Fahrrad gefallen). Doch der beste Freund liegt im Koma. Chuck kann ihm nicht einmal erzählen , dass er Anna kennengelernt hat. Anna, das Mädchen mit den Dschungel-Augen, Chucks erste große Liebe...


    ZUM AUTOR:
    Günter Ohnemus, geboren 1946 in Passau, arbeitete als Buchhändler, Lektor, Mitarbeiter am Collins Dictonary und als Verleger. Er wurde bereits ausgezeichnet mit dem Marburger Literaturpreis, den Alfred-Kerr-Preis und den Tukan-Preis. Im Fischer Verlag ist außerdem sein Jugendroman „Siebzehn Tage im August“ erschienen.


    EIGENE MEINUNG:
    „Alles was du versäumt hast“ ist wie ein Freund. Man kann mit diesem Buch lachen, ernst, fröhlich und traurig sein. Es überrascht mit neuen Geschichten und dennoch ist es wie ein alter Bekannter.
    „Alles was du versäumt hast“ ist eine Geschichte über Freundschaft, das Leben und eine ganz besondere Familie.
    Chuck rettet Anna im Straßenverkehr. Das ist eine Art Tradition in seiner Familie, in der bisher alle Männer ihre Frauen im Straßenverkehr retteten. Mit Anna beginnt für ihn eine wunderschöne Zeit, ein ganz neuer Abschnitt in seinem Leben: das Erwachsen werden.
    Das würde er eigentlich gern mit seinem besten Freund Toby teilen, doch der hatte einen Unfall und liegt seitdem im Koma. Chuck würde ihm trotzdem gern von seinem Leben erzählen und macht sich Gedanken darüber, wo Toby wohl gerade ist. Weil er die Hoffnung, dass Toby wieder aufwacht, nicht aufgibt, beginnt er ihm Briefe zu schreiben, in denen er das erzählt, was gerade passiert.
    Die Schreibe des Autors ist wunderschön. Mit Leichtigkeit, Lebensweisheit und einer ordentlichen Portion Humor, erzählt er die Geschichte einer grandiosen und einzigartigen Familie. Dieses Buch liest sich nicht nur flüssig, sondern macht auch süchtig. Süchtig nach noch mehr wundervoller Familie Ellermann, über die es hoffentlich ein weiteres Buch gibt.
    Mom und Pop sind die tollsten Eltern, die man sich wünschen kann. Multikulturell und indirekt haben sie ihre Kinder zu wundervollen Menschen erzogen, denen nichts so nahe liegt, wie die Familie. Die weltgewandte Terri, die in Paris lebt, die verrückte Suzzy, die ein Genie ist und bessere Musik komponiert als Beethoven und Chuck, der jüngste Spross der Familie, der ein Held sein kann, wenn er den Mut dazu aufbringt.
    Außerdem gibt es noch einen über 70 Jahre alten Großvater, der aber noch gar nicht so alt aussieht und Menschen über 30 für unzurechnungsfähig und Menschen über 60 für nicht mehr zurechnungsfähig hält.
    Das ganze Buch hält es, wie Chucks Eltern, mit indirekter Erziehung. Auf locker leichte Art und Weise werden Themen angesprochen, denen Jugendliche beim erwachsen werden, aber auch im Alltag begegnen. Ob es dabei um Politik, Verhütung oder Homosexualität geht; Chucks Eltern wissen zu allem einen Rat, ohne dabei belehrend zu sein. Man liest ihre Gespräche so gerne und ist begeistert, wie sie ihren Kindern „die Welt“ vermitteln. Unterlegt von diesem fröhlichen Erzählton, der trotzdem bei bedeutenden Themen entsprechend ernst, aber nie düster klingt, macht dies „Alles was du versäumt hast“ zu einem wirklich wundervollen Buch.
    Es wird nie langweilig und man saugt die Weisheiten regelrecht in sich auf. So gern wäre man ebenfalls Mitglied dieser flippigen, sehr besonderen und so herzlichen Familie. Die Wärme zwischen ihnen geht einem direkt ins Herz und verursachte eine Gänsehaut. Ich war neidisch auf die wunderschönen Momente, die sie miteinander erlebt haben und bin traurig, dass ich sie mit dem Beenden des Buches verlassen musste.


    FAZIT:
    Wer eine der wundervollsten Familien der Literatur kennen lernen und ein Buch lesen möchte, das fröhlich macht und die Sonne scheinen lässt, der sollte unbedingt zu „Alles was du versäumt hast“ lesen!!

  • Chuck ist knapp sechzehn und seine Geschichte beginnt wie eine schwerelose Sommerliebesgeschichte. Er lernt Anna kennen, es funkt sofort. Chuck, der Ich-Erzähler, berichtet flott und lustig, im Handumdrehen steht der Leserin ein Teenager vor Augen, selbstbewußt-unsicher, verträumt-praktisch, tolpatschig-geschickt, im richtigen Moment meist den falschen Spruch auf den Lippen, der dann auch heraus muß. Was an Chuck gleich besticht, ist seine liebenswerte Art, er ist ein freundlicher Held.


    Beim Lesen mischt sich bald ein dunkler Ton die Geschichte, man spürt, daß nicht alles so idyllisch ist, wie es zunächst scheint. Tatsächlich hat auch Chuck seine Probleme. Er ist ein Adoptivkind, sein bester Freund Toby ist gerade aus München weggezogen, ebenso die nächstältere Schwester Suzzy. An beiden hängt Chuck sehr, er muß mit den Verlusten umgehen lernen. Anna, so scheint es, kam zur rechten Zeit.


    Chucks Umfeld erweist sich als genauso liebenswert und liebevoll, wie er. Es wird von Familienverhältnissen erzählt, wie sie kaum günstiger sein können, für Kinder und für Erwachsene. Beide Teile benehmen sich beispielhaft, in jeder Lebenslage. Auch in der Schule gibt es keine Schwierigkeiten, im Gegenteil erfahren die SchülerInnen viel Förderung. Es gibt einen Debating-Kurs, den Chuck belegt hat, und wo er lernen kann, sich mit wichtigen Themen auseinanderzusetzen.
    Mitten in dieses nahezu ideale Leben platzt die Schreckensnachricht, Toby ist verunglückt und liegt im Koma. Chuck beschließt, Toby, mit dem er nun nicht mehr direkt kommunizieren kann, weiterhin Briefe zu schreiben, in denen er berichtet, was er erlebt.


    Das ist sehr schön erzählt und charmant formuliert. Allerdings schreibt der Autor grundsätzlich mit Blick auf die reine Idylle und das hält die Geschichte dann auch nur bis etwa zur Hälfte durch. Von da an geht es bergab, rasant.


    Die Beschreibungen der Debatten des Debating-Clubs lassen eine zuvor schon ein wenig zweifeln, ob hier tatsächlich denkerische Anregung für Jugendliche gegeben werden oder eher Vorschub geleistet wird, sehr komplexen Themen mit wachsweichen Kompromissen auszuweichen.
    Den eigentlichen Wendepunkt bildet ein nächtliches Männergespräch zwischen Chuck und seinem Vater. Dieser hat dem Jungen nicht nur ein Geständnis zu machen, sondern gleich zwei. Diese sind höchst überraschend, auch für die Leserin. In der Folge wird einer eine von Chuck referierte Sonntagspredigt zur Toleranz gegenüber Schwulen präsentiert, daß einer schwindelig werden kann. Das Ganze ist süßlich-platt formuliert, mit späteren Schlußfolgerungen, die atemberaubend sind. Wenn jemand nicht offen zu ihrem/seinen Schwulsein steht, so erfährt man, ist sie/er beileibe nicht feige, sondern beweist Stil und Klasse.
    Abgesehen davon, daß es keineswegs um Toleranz geht gegenüber Homosexuellen – diese Forderung allein ist schon bodenlos - , sondern um Akzeptanz, haben demnach alle, die offen schwul leben, keinen Stil.
    Das ist aber keineswegs alles. Die Botschaft lautet darüberhinaus, daß Schwule durchaus Kinder aufziehen dürfen, zu diesem Zweck sich aber völlig zu verleugnen und der Welt ein Bild gutbürgerlichen Familienlebens nach alter Tradition zu bieten haben. Vater, Mutter, Kinder. Nicht einmal die Kinder dürfen zunächst wissen, wie es eigentlich um die Eltern bestellt ist.


    Das ist nur der erste Einblick ins zutiefst spießbürgerliche Denken. Man hat die Attacke auf Schwule noch nicht verdaut, als es auch schon weitergeht. Chucks Großvater, seines Zeichens reicher Zahnarzt im Ruhestand, mit Villa in München und besten Beziehungen zu Prominenten aus allen Kreisen, die er jahrzehntelang mit blitzenden Gebissen ausstattete, gesteht, daß er schon lange des Nachts heimlich Illegale zahnärztlich behandelt. Seine Begründung ist eine blumige Auslegung des Hippokratischen Eids, bei der der süße Saft geradezu aus den Zeilen tropft. Mutig, wie unser reicher Zahnarzt ist, verteidigt er diesen Standpunkt auch noch gegenüber einem, so behauptet Chuck, wichtigen Politiker während einer Gartenparty. Den Mann hat der Großvater auch jahrelang, wenn auch tagsüber zu ordentlichen Sprechzeiten behandelt, aber in der Zeit war es deutlich nicht dienlich, politische Meinungen zu äußern oder, o, Horror, sich für eine Änderung politischer Zustände einzusetzen.


    Dass Chuck danach dann einem Erpresser über tausend Euro gibt, um seine Anna zu retten, und dieses Tun als richtig und gut hingestellt wird, Anna ihrerseits Chuck ‚belohnt‘, indem sie verspricht, auf Kondome beim Sex zu verzichten und lieber die Pille nimmt, weil Chuck Kondome so schrecklich findet, paßt ins Bild. Konsequenzen sind das letzte, worüber gute BürgerInnen nachdenken wollen, ihn der rosaroten Spießbürgerwelt gibt es das auch gar nicht. Für sie, meinen sie.
    Am Ende wacht Toby wieder auf. Chuck ist glücklich und beschließt, seine Briefe, die so schön schildern, wie sich die längst zu Ungeheuern mutierten Kleinbürgerinnen stilvoll verhalten, ‚in den Weltraum‘ – eine lyrische Überhöhung einer Cloud – zu schicken. Toby wird sie nie lesen.
    Die Leserin kann ihn deswegen nur beneiden.


    Grausige Lektüre, der man Jugendliche ganz sicher nicht aussetzen soll.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus