Ups, noch keine Rezi zu diesem wunderbaren Buch? Dann wird’s aber Zeit...
Die Lausitz, kurz nach dem ersten Weltkrieg. Der kleine Esau Matt zieht mit seiner Familie in ein kleines sorbisches Dorf, der Vater will die dortige Bäckerei übernehmen. Auch die Mutter hat große Pläne: sie will ein Geschäft eröffnen, um die Dorfbewohner mit den Dingen des täglichen Bedarfs zu versorgen. Der Laden entwickelt sich im Laufe der Zeit zum Mittelpunkt der Familie: nicht nur, dass er oft genug Anlass zu hochdramatischen Familenkrächen liefert, auch die gesamte Kindheit der Matt-Kinder steht unter dem Einfluss dieses Ladens: da müssen auch die bösartigsten Dorfbewohner freundlich gegrüßt werden, da sie doch treue Kunden sind, andererseits wird von Muttern (freilich vergeblich) Feindschaft mit den Müllerkindern angeordnet, backen deren Eltern doch das konkurrierende, wenn auch „breetgeloofene“ Müllerbrot.
Um diesen Laden also kreist Esaus Kindheit! Im engsten Kreis die Familie: eine Anhäufung von Individualisten, die alle einen Zipfel vom Glück erwischen wollen. Die Mutter, die des nächtens Hedwig Courtz-Mahler verschlingt und deshalb frühs nur selten in der Lage ist, ihren Laden pünktlich zu öffnen, ist in anderer Hinsicht ausgesprochen geschäftstüchtig: Durch geschicktes Marketing schafft sie es, so allerhand Nippes und Spiddelkram unter die Dorfbevölkerung zu bringen und ihnen mit Dingen, die sie zur neuesten Mode erklärt, das Geld aus der Tasche zu ziehen. Vobachs Modenzeitung fürs deutsche Haus dient ihr dabei als Inspirationsquelle. Esaus Vater hingegen tut sich eher schwer mit der Bäckerei, man könnte fast behaupten, er sei ein wenig faul, was wiederum dem Schwiegervater ein Dorn im Auge ist. Der nämlich war Geldgeber für das Projekt Brod-, Weißbäckerei, auch Colonialwarenhandlung, was in seinen Augen ein nicht unerhebliches Mitspracherecht in geschäftlichen Dingen begründet.
Dieser Schwiegervater ist zwar ein veritabler Stinkstiefel, aber nichtsdestotrotz der uneingeschränkte Held des kleinen Esau, denn wenn er auch des öfteren Zeter und Mordio schreit und seine Familie, insbesondere seine Frau, die Anderthalbmeter-Oma, schikaniert, kann er und weiß er doch alles, was einem kleinen Jungen Bewunderung abnötigt.
Doch noch viele andere Menschen bevölkern das Dorf und somit Esaus Kindheit: nahe und ferne Verwandte, Deutsche und Sorben, Freunde und Konkurrenten, Honoratioren und Grubenarbeiter und natürlich jede Menge Kinder, Schweine und Pferde.
Mit einer wunderbar bildgewaltigen, manchmal altmodischen aber immer wieder überraschenden Sprache webt Strittmatter diese vergangenen Zeiten zu einem untergegangenen Kosmos. Spitzzüngig und trotzdem zuneigungsvoll schildert er seine Protagonisten, die genaue Beobachtung und Freude am Fabulieren rücken das eigentlich ruhige Dorfleben in ein aufregendes, tragisches oder urkomisches Licht. Selbst wenn Strittmater dann und wann allzu sehr ins Nostalgische abzurutschen droht: eine ironische Spitze oder ein direktes Hinwenden zum Leser (Verzeih, werter Leser, ich bin wohl abgeschweift) rückt diesen Eindruck wieder zurecht. Denn es ist keineswegs eine heile Welt, die Strittmatter da schildert. Nicht nur der ungerechte und gerne prügelnde Dorflehrer macht Kummer, auch erkennt Esau im Laufe der Zeit, dass seine geliebte Familie auch so einige dunkle Flecken aufweist. Der Großvater betrügt, der Vater geht fremd und Mutter ordnet dem Umsatz ihres Ladens alles unter. Und trotzdem ist der Roman eine wunderbare Erzählung einer wunderbaren Kindheit mit allen Höhen und Tiefen.
Dies ist der erste Teil der Trilogie um den Laden, der damit endet, dass Esau das Dorf verlässt, um eine "höhere Schule" in der Stadt zu besuchen. Ich freu mich schon auf den nächsten Teil!