Flache Charaktere

  • Ich hör immer wieder bei Lesern: "Das Buch ist nicht so mein Fall. Da sind mir die Charaktere zu flach." usw.


    Aber was genau sind "flache" Charaktere für euch? Ich kann mir da nicht wirklich was drunter vorstellen.


    Und was für Erwartungen habt ihr eigentlich an Charaktere? Wie müssen sie sein damit sie nicht "flach" sind?


    Oft höre ich das nämlich auch bei Büchern die ich ganz toll find und deswegen interessiert mich das einfach.


    Bin gespannt auf eure Antworten.


    LG

  • Ich erklär das mal so, wie ich es gelernt hab:


    Es gibt in der Literaturtheorie, wenn man die Charaktere eines Textes analysiert, zwei Arten von Charakteren:


    1. Der runde Charakter: (Nein, nicht dick :lache) Meistens die Hauptperson oder nahe daran, viel Text wird der Beschreibung des Charakters gewidmet, seiner Denkmuster und Handlungsweisen, der Charakter macht in den meisten Fällen im Laufe des Textes auch eine geistige Wandlung (in Bezug auf seinen Standpunkt, seine Sichtweise, abhängig vom Text) durch.


    2. Der flache Charakter: Meist Nebenpersonen, die eine bestimmte Funktion innerhalb des Textes erfüllen sollen (wie zum Beispiel den Hauptcharakter zu irgendetwas zu bewegen, aus Autorensicht), allerdings selbst mit ihrer Hintergrundgeschichte nicht von Belang sind und daher weder näher in ihren Denkmustern beschrieben werden, noch irgendwelche geistigen Wandlungen durchmachen dürfen.


    Wenn sich Leser jetzt über "zu flache Charaktere" beschweren, heißt das meistens, dass jemand, der eigentlich 1. sein müsste, zuviel 2. ist. :lache


    Zum Beispiel wenn die Hauptfigur eines Buches, das du liest, und aus deren Perspektive erzählt wird, kaum hinterfragt, was passiert, einfach alles hinnimmt, oder auch wenn andere Charaktere eines Buches nicht näher beschrieben werden, ihnen keine Zeit gewidmet wird und sie dadurch farb- und leblos bleiben.


    Ich hoffe, ich konnte meine wirre Denke nachvollziehbar abtippen. :wave

  • Nehmen wir uns mal ein Märchen vor, z.B. Schneewitchen:
    Schneewittchen ist als Charakter ziemlich flach: hübsch, nett und leider auch etwas blöde. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ihre Stiefmutter ist im Märchen genau so flach: eine bösartige Usurpatorin, die dem armen Schneewittchen ans Leibchen will, nur weil die ihre Eitelkeit verletzt.


    Diese Figur könnte allerdings, wenn es hier nicht um ein Märchen ginge, viel weniger flach, tiefgründiger sein. Etwa, wenn die Motive klar wären, warum sie so geworden ist, ihre Entwicklung, ihre Vergangenheit oder ihre Beziehung zu Schneewittchen, als dieses noch klein war. Außerdem könnte auch ihre Sicht der Dinge berücksichtigt werden: da kommt so ein Naivchen an und verdrängt sie aus einem Job (nämlich Königin zu sein), den die Stiefmutter selbst viel besser machen könnte, besitzt sie doch die nötige Intelligenz, Raffinesse und auch Skrupellosigkeit, und das nur, weil so ein beknackter Spiegel behauptet, Schneewittchen wäre schöner als sie. Und wie ist eigentlich die Beziehung zum König, vielleicht liebt sie den ja ehrlich und sorgt sich, dass Schneewittchen inzestuös in ihre Beziehung einbrechen will?


    Ich gebe zu, das ist keine besonders gut durchdachte Analyse, sondern nur so ein paar Ideen. Natürlich läuft ein Autor da leicht Gefahr, dass seine Protagonisten überkonstruiert wirken und deshalb ebenfalls unglaubwürdig werden. Es ist halt die Kunst, da ein Gleichgewicht hinzukriegen.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

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  • Einfach ausgedrückt: Flache Charaktere sind Figuren, denen man ihr Menschsein nicht abnimmt, weil sie nur einige wenige Eigenschaften besitzen, die Schablonenhaft wirken und ständig eingesetzt werden.
    Beispiel:
    Figur A ist schön und gerät ständig aus eigener Schusseligkeit in gefährliche Situationen
    Figur B ist ebenfalls schön (und glitzert im Sonnenlicht) und rettet Figur A ständig.
    Wesentlich mehr erfährt man nicht, an den Eigenschaften der Figuren ändert sich nichts, die Figur macht keinerlei Entwicklung durch - das sind dann ziemlich flache Charaktere.

  • Tolle Frage -


    Gerade Eure Erklärungen zu Figur 1 und 2 lassen mir da eine Figur ins Auge springen - es geht um Anne Perry und die Pitt Romane. Darin ist die Großmutter eine ständige Giftnudel die nur auf Ettikette achtet ... -


    In einem der Weihnachtskrimis von Anne Perry wird sie plötzlich zu Figur 1 - wir erfahren, warum sie so geworden ist und sie hat plötzlich eine Tiefe, die man ihr nicht zugetraut hätte. Das brachte mir diesen Weihnachtskrimi so nah und berührte mich. Diese Erklärung war ein Aha-Erlebnis.


    Danke für diese Idee am frühen Morgen

    Binchen
    :write
    Kein Lesen ist der Mühe wert, wenn es nicht unterhält. (William Somerset Maugham) ;-)

  • hm interessant. Jetzt kann ich mir auf jeden Fall mehr darunter vorstellen.


    Aber na ja. Ich bin da wirklich meist nicht so anspruchsvoll. Ich mag auch manche "flache" Charakteren sehr gern. Und es gibt bei mir eigentlich fast kein Buch wo mir wirklich aktiv solche Charakteren aufgefallen wären.


    Na ja ist vermutlich auch Ansichtssache wie man alles interpretiert usw.

  • Zitat

    Original von Tilia Salix


    Figur A ist schön und gerät ständig aus eigener Schusseligkeit in gefährliche Situationen
    Figur B ist ebenfalls schön (und glitzert im Sonnenlicht) und rettet Figur A ständig.


    :rofl :anbet

  • Ich finde, dass es in der Literatur geradezu von solchen flachen Charakteren wimmelt. Vor allem in den rasch dahingeschluderten Büchern vieler Erfolgsautoren treten sie doch in rauen Mengen auf. Mir fallen da vor allem die Helden in den Krimis ein, die nie Schlaf oder Nahrung brauchen und 24 Stunden täglich Höchstleistungen vollbringen.
    Aber auch in historischen Romanen treiben sie sich gerne herum. Da habe ich dann eher das Gefühl, dass es sich um moderne Menschen handelt, die die historischen Personen bloß spielen, Lichtjahre von jeder Glaubwürdigkeit entfernt.
    Dori hat das ja sehr schön beschrieben, und ich habe vor allem bei der zeitgenössischen Literatur das Gefühl, das die Hauptfiguren eher mit den Eigenschaften von Punkt 2) ausgestattet sind.
    Die russischen, französischen, aber auch viele deutsche Schriftsteller des 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts beherrschen die Kunst, einem Charakter Tiefe zu verleihen meiner Meinung nach dagegen ganz exzellent. Sicher nicht alle, aber doch sehr viele.

  • Stimmt Sylli, es gibt Unmengen von diesen Büchern.
    Flache Charaktere treten meist auch noch im Doppelpack auf mit einer stereotypen, vorhersehbaren Handlung, und bringen mich normalerweise dazu, ein Buch verärgert abzubrechen.


    Das Phänomen gibts aber in praktisch allen Genres.
    Besonders schlimm finde ich es bei Liebesromanen bzw. allen Derivaten davon (Historicals - Romantic Fantasy - Lady-Thriller oder wie diese neuen Navy Seals und Feuerwehr Nackenbeißer heißen).



    //Edit: Ich muss aber zugeben, in jungen Jahren hat mich das nicht so gestört, bzw. als Teenager habe ich vieles gelesen, was ich heute mit der Kneifzange nicht mehr anpacken würde.
    Ich vermute, das liegt auch daran, dass man, wenn man einige hundert Bücher gelesen hat, einfach solche nicht mehr erträgt, die mit der hundertsten Abziehfigur-Kopie eines Prototypenhelden daherkommen.

    Ich hab' mich verirrt.
    Ich bin dann mal weg, um nach mir zu suchen.
    Sollte ich zurückkommen, bevor ich wieder da bin, sagt mir bitte, ich soll hier warten!

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von elwe ()

  • Zitat

    Original von Tilia Salix
    Beispiel:
    Figur A ist schön und gerät ständig aus eigener Schusseligkeit in gefährliche Situationen
    Figur B ist ebenfalls schön (und glitzert im Sonnenlicht) und rettet Figur A ständig.


    :rofl Das war so super!


    Zitat

    Original von Sylli
    Die russischen, französischen, aber auch viele deutsche Schriftsteller des 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts beherrschen die Kunst, einem Charakter Tiefe zu verleihen meiner Meinung nach dagegen ganz exzellent. Sicher nicht alle, aber doch sehr viele.


    Das sehe ich genauso!


    Zitat

    Original von elwe
    Flache Charaktere treten meist auch noch im Doppelpack auf mit einer stereotypen, vorhersehbaren Handlung [...]
    //Edit: Ich muss aber zugeben, in jungen Jahren hat mich das nicht so gestört [...]
    Ich vermute, das liegt auch daran, dass man, wenn man einige hundert Bücher gelesen hat, einfach solche nicht mehr erträgt, die mit der hundertsten Abziehfigur-Kopie eines Prototypenhelden daherkommen.


    Ja, ich muss auch sagen, je mehr ich lese desto höher werden die Ansprüche an die Charaktere. Man bringt sonst auch einfach die Bücher durcheinander, wenn die Charaktere sich so sehr ähneln. Ich habe nach Büchern mit Charakteren ohne Tiefe, (will heißen ohne Darstellung ihrer Gedanken, ohne Selbstreflexion, ohne nachvollziehbare Handlungen und einer nicht vorhandenen Vergangenheit und nur guten Eigenschaften [schön, klug, begehrt, ohne "echte" Fehler]) oft das Gefühl meine Zeit vergeudet zu haben.
    Wobei ich widersprüchlicherweise aber zugeben muss: Ich hab das Buch mit dem glitzernden Mann gelesen und fand es ganz unterhaltend. Es gehört auf keinen Fall zu meinen Lieblingsbüchern und ich mache mich auch gerne selber drüber lustig. Aber es gibt, meiner Meinung nach, bedeutend schlechtere Jugendbücher. - Aber eben auch viele bedeutend bessere davon!

  • Zitat

    Original von Cith
    Wobei ich widersprüchlicherweise aber zugeben muss: Ich hab das Buch mit dem glitzernden Mann gelesen und fand es ganz unterhaltend.


    Ich verstehe das :grin. Ich lese so Bücher auch ab und an, und wenn sie nicht gar zu blöd geschrieben sind, munden sie sogar ... in sparsamen Dosen. Die sind wie Zuckerwatte, ein bisschen davon ist lecker und man will mehr, aber wenn man zuviel isst, wird einem schlecht. Und satt macht sie auch nicht.

    Ich hab' mich verirrt.
    Ich bin dann mal weg, um nach mir zu suchen.
    Sollte ich zurückkommen, bevor ich wieder da bin, sagt mir bitte, ich soll hier warten!

  • Ist bei mir auch so, es muss einem ein Charakter schon nahegehen, damit man ihn sich merkt.


    Der Vergleich mit der Zuckerwatte gefällt mir, elwe, und geht mir auch so.

  • hm, ich hab noch mal ne Frage.


    Und zwar kann es ja auch sein, dass in einer Bücherreihe oft weniger über die Nebencharaktere erzählt wird als über die Hauptcharaktere, aber in dem letzten Band werden dann Nebencharaktere und ihre Geheimnisse oder was auch immer dann trotzdem noch entschlüsselt und näher erklärt.


    Nennt ihr diese Charaktere dann auch noch "flach", weil sie in der Reihe sonst nicht wirklich erklärt werden?


    Wie gesagt ich bin da ja nicht so wählerisch, aber es interessiert mich einfach.

  • Ich glaube, Reihen sollte man immer Buch für Buch einzeln betrachten. Bestes Beispiel: Vergleiche mal "Harry Potter und der Stein der Weisen" mit "... und die Heiligtümer des Todes". Da ändert sich ja nicht nur die Grundstimmung im Buch per se, sondern auch die Sicht auf die Charaktere.
    Draco Malfoy zum Beispiel ist in Teil 1 für mich ein flacher Charakter, weil er im Prinzip nur "böse" und "fies" ist. Erst in den späteren Teilen erfährt man ein bisschen Familienhintergrund und eigene Motive, da erlangt der Charakter erstmal richtig Tiefe.

  • Zitat

    Figur B ist ebenfalls schön (und glitzert im Sonnenlicht) und rettet Figur A ständig.


    Genial.. :rofl Ich finde, das kann man glatt als Paradebeispiel so stehen lassen.


    Ich selbst entdecke flache Charaktere immer in kurzweiligen und sehr einfach strukturierten Büchern. Ganz klassisch flache Charaktere sind für mich zum Beispiel bei ,,Sags nicht weiter, Liebling" von Sophie Kinsella zu finden. Ständig geht es um Tollpatschigkeit und ich wüsste im Nachhinein noch nichtmals, was die Person sonst noch so ausmachte. Es sind meist jene Bücher, die man inhaltlich zwar wahrnimmt, gut verfolgen kann aber so garkeine Spuren hinterlassen, nur wenig zum Nachdenken anregen. Wenn ich etwas kurzweiliges lesen möchte, erwarte ich zum Beispiel auch keine wahnsinnig gut gezeichneten Charaktere, dann soll es um Handlung gehen und ehrlich gesagt leiden die Charakterzeichnungen darunter enorm.


    Ein flacher Charakter ist für mich eher eine ausgeschnittene Pappfigur, noch nichtmals eine beweglicher Comicheld, und schon garkein lebendiger Mensch, den ich mir dann darunter vorstellen könnte.


    Zitat

    Wobei ich widersprüchlicherweise aber zugeben muss: Ich hab das Buch mit dem glitzernden Mann gelesen und fand es ganz unterhaltend.


    Ich ja zugegebenermaßen auch, denn ich finde flache Charaktere zur Abwechslung mal ganz praktisch und definitiv unterhaltend. Wenns mir allerdings zu flach wird, dann leidet leider auch die Unterhaltung darunter. Sophie Kinsella kann sicherlich gut unterhalten, von daher finde ich den Vergleich mit Zuckerwatte auch garnicht verkehrt. Noch dazu muss man auch erst einml das Gegenteil von flachen Charakteren kennenlernen, um überhaupt zu verstehen, was flache Charaktere überhaupt sind.

  • ich kenne beide Versionen (jetzt da ich es mir hab erklären lassen kann ich das mit Sicherheit sagen), aber ich mag auch beide Versionen, nicht in allen Büchern, aber in einigen.

  • Für mich ist z.B. der Klappentext: "Die Hauptperson xy ist schön, selbstbewusst und intelligent" gleich ein Ausschlusskriterium. Da denke ich an einen flachen Charakter, der keine Entwicklung durchläuft, weil er ja schon zu Beginn perfekt ist.


    Ich reagiere allergisch, wenn mir aufs Auge gedrückt werden soll, wie toll diese oder jene Figur ist.

  • Die Diskussion hier ist wirklich interessant.


    Den Vergleich mit der Zuckerwatte empfand ich auch als sehr passend. Manchmal möchte man eben gerne auch ein bisschen Zuckerwatte. Aber bitte nicht immer.


    Was Harry Potter angeht stimme ich Dori zu. Gerade Malfoy ist ein gutes Beispiel für einen Charakter, der am Anfang der Reihe eher flach gezeichnet ist. Wobei ich sagen muss: beim nochmaligen Lesen (wenn man den Hintergrund dann kennt) entdeckt man vielleicht sogar die ein oder andere Andeutung auf die spätere Entwicklung.