Die Anthologie gibt es zwar schon eine Weile, aber ich bin erst jetzt dazu gekommen, sie zu lesen - und war angenehm überrascht ...
„Geschichten unter dem Weltenbaum“ gliedert seine Erzählungen nach Wurzel, Stamm und Krone, wobei der Leser sich quasi aus der Dunkelheit zum Licht hinauf arbeitet. Insbesondere die düsteren Geschichten, die am Wurzelwerk des Arbor Fantastica spielen, vermögen es, die Leserschaft zu fesseln. Orks und Dunkelelfen, Schwarzalben und Nachtmahre treiben hier ihr Unwesen und faszinieren die Leserschaft sowohl mit erwarteter Boshaftigkeit als auch mit amüsanten Dialogen. Den Inhalt von insgesamt neunzehn Werken hier breitzutreten, wäre etwas übertrieben, doch es soll einen kleinen Rundumblick geben: Die bekannteste Geschichte der Anthologie ist vermutlich „Das Herz des Jägers“ von Vanessa Kaiser und Thomas Lohwasser, welche zurecht für den Deutschen Phantastik Preis nominiert wurden. Die Geschichte punktet mit ihrer eigentümlichen Atmosphäre, entfaltet aber ihre Kreativität erst am Ende. In den Genuss einer so gelungenen Auflösung kommt man selten. „Der Herr der Verzweiflung“ von Wassilios Dimtsos beeindruckt ebenfalls mit einer geschickten Storyführung und passt wie keine andere zu der ewigen Finsternis unter dem Weltenbaum. Humorvoller geht es bei „Schabernack“ von Kira Licht zu. Die Geschichte bietet zwar wenig Spannung, liest sich aber durchaus unterhaltsam und gewährt einen schönen Einblick in das Leben vermeintlich finsterer Wesen.
Der Stamm wirkt im Vergleich zu Wurzel und Krone etwas schwach und kränkelt zuweilen an der Vorhersehbarkeit der Geschichten. „Marimba“ von Marlies Aurig jedoch ist ein schön erzähltes Märchen, dessen Ausgang zwar nicht überrascht, aber das Herz des Lesers berührt. Auch „Schwalbensommer“ von Miriam Kraft liest sich märchenhaft und melancholisch und überzeugt mit einem feinfühligen Stil. Gut geschrieben sind fast alle Werke des Stammes, doch die guten Ideen können sich in ihrer Offensichtlichkeit kaum entfalten. Besser lesen sich die Geschichten um die Krone des Weltenbaums, die dem himmlischen Licht zwar am nächsten ist, doch zwischen dem Blattwerk fast ebenso dunkel erscheint wie die Wurzel. „Des Himmels Chronisten“ von Moira Frank zeigt die Krone im hellsten Glanz und bietet einen spannenden Verlauf, ebenso wie „Dunkle Asche“ von Heike Pauckner, welche allerdings deutlich düsterer daherkommt. Die finsteren Seiten der erhabenen Lichtelfen zu sehen, stellt eine willkommene Abwechslung zu den der ansonsten überirdisch weisen Darstellung dieser Wesen dar. „Das Wintermädchen“ von Franziska Kopka liest sich märchenhaft schön, wobei die Grundidee zu stark an ähnliche Werke erinnert. Dennoch wird die Liebe zwischen den Protagonisten gefühlvoll dargestellt.
Die Anthologie schließt mit Ragnarök, dem Weltuntergang. „Wiedergänger“ von Astrid Rauner soll diesen einleiten, liest sich jedoch insgesamt relativ schwach. Lediglich der mythologische Hintergrund ist interessant und gelungen, die Spannung bleibt allerdings auf der Strecke. Auch fehlt hier eine Zeichnung, die bei Wurzel, Stamm und Krone jeweils zu finden ist. Diese sind eine nette Dreingabe, qualitativ allerdings nicht besonders beeindruckend. Auch fehlen die Autoreninfos im Anhang – es wird lediglich auf die Website des Verlages verwiesen. Für Werbung hingegen ist genug Platz geblieben. Da hätten auch die Autoreninfos noch einen würdigen Platz im Buch finden können. Nichtsdestotrotz bietet der Verlag ein stabiles Taschenbuch mit tollem Cover, das sich auch preislich sehen lassen kann. Die Auswahl der Geschichten ist insgesamt gelungen, denn diese sind zwar nicht alle auf dem gleichen Niveau, unterscheiden sich jedoch in ihrer Herangehensweise ans Thema sehr stark. Und so wird es auch bei der letzten Geschichte nicht langweilig, schon wieder vom Weltenbaum zu lesen – im Gegenteil, man würde gerne weiterlesen wollen. Die Wahl des Themas bietet vielseitige Möglichkeiten, vereint verschiedenste Völker und Welten, sodass sich für jeden Geschmack etwas finden sollte.
Zudem sollte erwähnt werden, dass es sich bei „Geschichten unter dem Weltenbaum“ quasi um eine Forumsanthologie handelt, welche sich hinter Anthologien, die namhafte Autoren bieten, nicht zu verstecken braucht. Es liegt in der Natur einer Anthologie, dass nicht jeder Geschichte fesseln kann und dass gute Geschichten von sehr guten in den Schatten gestellt werden. Rein handwerklich sind jedoch alle Geschichten gut geschrieben, wobei auch hier die meisten der oben genannten Werke herausstechen. Besonders interessant ist dabei die Aufarbeitung der nordisch-germanischen Mythologie, die in manchen Geschichten in besonderem Maße zu Tage tritt. So ist die Anthologie nicht nur für jeden Fantasyleser eine Empfehlung wert, sondern insbesondere für jene, die sich gerne mit der Mythologie des Nordens beschäftigen oder es noch vorhaben. Denn hier kann man dem Eichhörnchen Ratatöskr und dem Fenriswolf begegnen, sowie einen Blick in die ehrwürdigen Hallen Odins werfen. Die meisten Geschichten spielen dabei in phantastischen Welten, nur wenige erhalten eine Verbindung zur realen Welt, was zwar wiederum Abwechslung bietet, aber nicht recht zur Anthologie passen will. Achja: Auch die Anthologie selbst ist für den Deutschen Phantastik Preis nominiert!
Fazit
„Geschichten unter dem Weltenbaum“ bietet neben einigen Schätzen handwerklich gelungene Kurzgeschichten, die mit viel inhaltlicher Abwechslung die Leserschaft bestens unterhalten. Sowohl Liebhaber klassischer Fantasy wie auch Anhänger der nordischen Mythologie kommen voll auf ihre Kosten. Eine gelungene Anthologie, die man jedem Fantasyleser ans Herz legen kann!