China in der nahen Zukunft. 2013. Der chinesische Staatskapitalismus war am besten dazu geeignet, auf die Finanzkrise der ausklingenden Nullerjahre zu reagieren. Nun dominiert man die Weltwirtschaft und exportiert das chinesische Lebensgefühl auch ins Ausland. Starbucks wurde von dem taiwanischen Unternehmen Want-Want aufgekauft und statt Cafe Latte oder Americano trinkt man jetzt auf der ganzen Welt Longjingtee-Latte. Es ist Chinas goldenes Zeitalter.
Alle Chinesen sind glücklich, auch Chen, der Held des Romans. Früher war er einmal Intellektueller und wollte einen Roman schreiben, später schrieb er Selbsthilfebücher, machte sein Vermögen aber in Immobilien. Heute ist sein einziges Problem über das er bei seinem täglichen Spaziergang zu Want-Want Starbucks nachsinnt, dass er einfach zu glücklich ist, um seinen Roman zu schreiben.
Die heile Welt gerät ins Wanken, als ihn ein alter Bekannter auf der Straße anspricht. Ein ganzer Monat würde fehlen, versucht dieser im zu erklären. Und tatsächlich, ein ganzer Monat unmittelbar vor dem wirtschaftlichen Umbruch fehlt im kollektiven Gedächtnis der Chinesen, nur einige wenige können sich erinnern. Eine solche Idee als allegorischer Aufhänger eines Romans erinnert etwas an Jose Saramago (z.B. Stadt der Blinden oder Eine Zeit ohne Tod) und funktioniert auch hier sehr gut. Der Plot des Mittelteils des Romans erinnert an frühe Philip K. Dick-Romane.
Der Mann auf der Straße ist nicht der einzige Gegenpol zu dem zunächst unkritischen Protagonisten und Ich-Erzähler des ersten Abschnitts (eine gut gewählte Perspektive, wie ich finde). Da ist auch Xiaoxi, die Chen noch von früher kennt. Sie erinnert sich zwar nicht an den fehlenden Monat, macht aber kritische Kommentare in Internet-Foren (eine Art politisch motivierter Internet-Troll) und muss permanent ihre e-mail Adresse ändern. Ausgerechnet ihr Sohn steht am Beginn einer Parteikarriere. Chen war heimlich in Xiaoxi verliebt und versucht nun wieder mit ihr Kontakt aufzunehmen. Aus libido-gesteuerten Gründen, nicht aus politischen. Ich fand es sehr spannend, wie unfreiwillig Chen aus der Bahn geworfen und ins Zentrum des Widerstands gerät.
Stilistisch hat der Roman einige Brüche. Er fängt als Ich-Erzählung aus der Sicht von Chen an, dann werden immer wieder Abschnitte aus der Ich-Perspektive der Nebenfiguren eingebettet (funktioniert auch sehr gut, z.B. die Erzählung aus der Sicht des linientreuen Sohnes von Xiaoxi). Im Mittelteil wird dann in der dritten Person erzählt und im letzten Drittel kommt ein kommentierender Ton hinzu. Der Roman verliert etwas das Erzählerische, und wird immer mehr zum China-kritischen Thesenroman. Es wird der Bogen zu den Ereignissen von 1989, dem Tian’anmen-Massaker, geschlagen, und die politischen Ereignisse aus dem fehlenden Monat aus diesem Roman werden im Detail erklärt. Für mich als wirtschaftspolitischen Laien hörte sich die fiktionale Entwicklung der Weltwirtschaft durchaus glaubwürdig an. Das kann man literarisch vielleicht kritisieren, aber der Roman machte als Gesamtkonzept trotzdem einen runden Eindruck.
Der Roman ist 2009 in Hongkong und Taiwan erschienen. In China hat das Buch keinen Verleger gefunden, wurde im Internet aber als Kopie verteilt (der Autor hat es selbst in den Umlauf gebracht) und hat so einen gewissen Underground-Kultstatus erlangt. Auch wenn das Buch in China de facto einem Bann unterliegt, hat der Autor offenbar bisher nicht dieselben Erfahrungen machen müssen wie andere kritische Intellektuelle wie Ai Weiwei oder Liu Xiaobo, trotzdem möchte ich diesen Roman zur ergänzenden Beschäftigung mit diesem aktuellen Thema unbedingt empfehlen.
Sehr starker und wichtiger Roman.