OT: The Secret of the Old Clock 1930
Mit diesem Buch begann 1930 die Karriere einer Ikone der US-amerikanischen Mädchenliteratur des 20. Jahrhunderts, genauer gesagt, der Kriminalliteratur. Die erste Teenager-Detektivin, Nancy Drew, wurde geboren. Der ersten Geschichte folgten gut 150 weitere bis heute, in verschiedenen Serien, mit leichten Anpassungen an die sich ändernden Zeitumstände, fünf Filme, zwei Fernsehserien, inzwischen Mangas und Computerspiele. Nancy Drew, so scheint es, ist unsterblich.
Entworfen wurde die Figur ca. 1926 von einem Mann, dem Verleger und Kinderbuchautor Edward Stratemeyer (1862 - 1930), der u.a. Detektivserien für Jungen geschrieben hatte und nun auch mehr Mädchen als Publikum gewinnen wollte. Geschrieben hat die Kriminalgeschichten mit Nancy Drew in den ersten Jahren Mildred Wirt Benson (1905 - 2002), die für Stratemeyers Verlag als Ghostwriter arbeitete. Der vermeintliche Autorinnenname ‚Carolyn Keene’ war ein gemeinschaftliches Pseudonym des Verlags. Die ersten vier Bände der neuen Serie erschienen gleich 1930.
Das Geheimnis der alten Uhr, beginnt gleich mit einem humanitären Einsatz der Protagonistin, womit diese Figur von Anfang an eindeutig charakterisiert ist. Die Sechzehnjährige (in späteren Auflagen wird sie zu einer Achtzehnjährigen) wird Zeugin, wie ein Möbelwagen beinahe ein Kind überfährt. Nicht genug damit, fällt das Kind, ein süßes kleines Mädchen, auch noch in einen kleinen Fluß. Aber Nancy rettet es und lernt dann die Großtanten kennen, die die Kleine aufziehen, weil sie verwaist ist. Im Gespräch stellt sich heraus, daß sie noch dazu verarmt sind. Insgeheim haben die Großtanten immer gehofft, daß ein entfernter Verwandter, Josiah Crowley, sie in seinem Testament bedenken würde, aber er ist gestorben und was es zu erben gab, haben andere geerbt. Unsere blonde, blauäugige und herzliebe Protagonistin ist tief betroffen. Aber sie ist auch energisch sein. Als sich herausstellt, daß die Möbelpacker bei den Großtanten nicht nur Möbel gekauft, sondern auch gleich das Silber haben mitgehen lassen, saust sie ihnen in ihrem Auto - Nancy hat einen eigenen Wagen - hinterher. Sie findet sie nicht mehr, zeigt sie aber sofort an. Das hätten die lieben Großtanten nie fertiggebracht.
Erschöpft von diesen guten Taten fährt sie heimwärts zu ihrem Vater, dem Anwalt Carson Drew, für den sie hin und wieder Akten transportiert. Im Gespräch mit diesem liebevollen, geduldigen und immer großzügigen Papa, der natürlich ein hervorragender Anwalt ist, erfährt Nancy nicht nur, daß ihr Vater Mr. Crowley von Ferne gekannt hat, sondern daß auch die Möglichkeit besteht, daß er ein zweites Testament gemacht hat.
Nancy will mehr wissen und hört sich in der Umgebung um. In den folgenden Tagen stößt sie immer wieder auf liebe, gute Menschen, die verarmt sind und gehofft haben Mr. Crowley würde sie nach seinem Ableben finanzieren. Aber sie haben nichts bekommen. Geerbt hat eine Familie, die Nancy ganz schrecklich unsympathisch findet. Das kann einfach nicht mit rechten Dingen zugehen!
Damit beginnt die Jagd auf das geheimnisvolle zweite Testament. Am Ende sind die guten Bürger wieder flüssig, die bösen Bürger pleite und die bösen Unterschichtler im Knast. Und Nancy bekommt eine gewisse alte Uhr, die einst Mr. Crowley gehörte, als Erinnerung an ihren ersten Fall.
Attraktiv für ein junges Publikum ist die sehr selbständig agierende Heldin allemal. Sie ist mobil, nie um Einfälle verlegen, mutig. Sie ist immer schick gekleidet, mädchenhaft-fraulich, meist in Kleidern, hin und wieder in Rock und Bluse oder Kostüm, mit Handtasche und Handschuhen, an den Füßen Pumps. Eine richtige junge Dame. Sie ist wohlerzogen, nett zu kleinen Omis, großäugigen Kindern und süßen Tieren. Gegenüber ungehobelten oder gar kriminellen Elementen weiß sie immer ihre Würde zu bewahren und auf ihren Rechten zu bestehen. Daß die anderen nicht auf sie hören, ist nicht Nancys Schuld! So gerät sie in Klemmen, die etwas Spannung in den doch eindeutigen und vorhersehbaren Ablauf der Handlung bringen (sollen).
Überdies hat sie nie, nie, nie Geldprobleme. Das haben nur andere, aber wenn sie gute Menschen sind, haben sie es nach einer Begegnung mit Nancy auch nicht mehr.
Auffällig ist, daß sie keine Mutter hat. Ihr Vater ist verwitwet, er und Nancy werden von einer Haushälterin versorgt. Die mahnende mütterliche Stimme aber fehlt durchgängig. Nancy ist eine Vatertochter, energisch, eigenwillig, gescheit. Ihre Weiblichkeit ist schon umfassend ausgebildet, dafür braucht sie niemanden mehr. Das ist die einzige wirklich interessante Konstruktion in diesen stereotypen Geschichten.
Das Ganze ist Stoff zum Träumen. Indizien und Informationen fallen der Heldin bei genauerem Hinsehen leicht in den Schoß, Zufälle häufen sich. Als Anwaltstochter hat sie Zugang zu Spezialwissen, das eigentlich unter Berufsgeheimnis und Schweigepflicht fällt. Ihre Höflichkeit, gepaart mit einem sonnigen Gemüt, bringt sie mit jedem ins Gespräch, mit dem sie sprechen will, vom Hausmeister bis zur Putzfrau, was überdies unerwartete Zusatzinformationen nach sich zieht, weil ihre GesprächspartnerInnen, einmal ins Reden gekommen, bei so viel netter Anteilnahme einfach weiter erzählen müssen.
Diese Geschichte und auch die anderen der Serie kann man nur aus sentimental-nostalgischen oder wissenschaftlich-analytischen Gründen noch lesen. Ihren Erfolg kann man bewundern oder beklagen. Zugestehen muß man ihn auf jeden Fall. Nancy Drew - man beachte den Anklang an ‚true’(wahr, gut, schön) - ist im Olymp der Unterhaltungsliteratur angekommen, für immer und ewig.
Verlinkt habe ich den Nachdruck der US-Ausgabe von 1959 bzw. 1987, die ich gelesen habe. Es ist ein fotomechanischer Nachdruck mit den alten Illustrationen von Russel H. Tandy. Für die Ausgabe 1959 wurde das Original leicht gekürzt, aber ich weiß nicht, ob mehr Ausführlichkeit dieser sehr holzschnittartig, wenn auch glatt erzählten Geschichte aufgeholfen hätte. In meiner Ausgabe ist Nancy dann auch achtzehn Jahre alt, nicht mehr sechzehn, wie ursprünglich.
Eine Version für Kindle gibt es inzwischen ebenfalls.