OT: Western Wind 1993
Elizabeth ist elfeinhalb Jahre alt und hat eben einen kleinen Bruder bekommen. Das paßt ihr überhaupt nicht, der eigentliche Schlag aber kommt, als sie erfährt, daß sie in den Sommerferien nicht, wie geplant, mit ihrer besten Freundin eine Radtour machen darf, sondern Ferienwochen bei ihrer Großmutter auf einer abgelegenen Insel an der Küste von Maine verbringen soll. Großmutter ist ein Kapitel für sich. Sie ist Malerin und hat nicht nur künstlerisch ihren eigenen Kopf. Wenn die Familie die Ferien zusammen verbringt, gibt es eigentlich immer Streit. Großmutters Blick aufs Leben nervt. Das zeigt sich schon darin, daß sie in letzter Zeit ihre Sommermonate in einer Hütte ohne Strom und fließend Wasser verbringt. Elizabeth ist entsetzt und sauer. Das ist nicht nur wie Gefängnis, das ist Gefängnis unter härtesten Bedingungen!
Pring, die kleine Felseninsel im eiskalten Meer, zeigt allerdings bald einen Reiz eigener Art, ebenso die Hütte, die eigentlich ein einziges Atelier mit Wohngelegenheit ist. In der Abgeschiedenheit ist Elizabeth auf ihre Großmutter angewiesen. Zuerst widerwillig, dann immer neugieriger lauscht sie ihren Geschichten und den Gedichten, die sie rezitiert. Abwechslung gibt es auf Pring wenig. Eine Familie mit zwei Kindern wohnt auch noch dort, aber die Tochter, nur ein wenig älter als Elizabeth, macht aus ihrer Abneigung gegen sie keinen Hehl und ihr kleiner Bruder, Aaron, ist ein Kind, das auch mit ‚verhaltensauffällig’ nur unzureichend beschrieben werden kann. Dennoch gelingt Elizabeth und dem kleinen Aaron eine Art Annäherung und unmerklich auch Elizabeth und ihrer Großmutter.
Die Ferien vergehen und einige Zeit später stellt sich heraus, daß Großmutter einen besonderen Grund hatte, die Sommerwochen mit ihrer Enkelin zuzubringen. Der Grund kommt auch für die Leserinnen und Leser überraschend, so, wie das meiste in dieser Geschichte überrascht. Es ist weder eine Feriengeschichte, noch eine warme Familiengeschichte. Das Ganze ist, sprachlich und denkerisch wunderbar verpackt, eine Studie über innerfamiliären Egoismus und die Wunden, die er über Generationen hinweg schlägt. Elizabeths Großmutter versucht gutzumachen, was sie noch gutmachen kann. Es ist eine Lektion, die die sehr junge Protagonistin und wahrscheinlich auch die LeserInnenschaft allzu leicht überfordern kann. Wenn man nicht auf Überraschungen gefaßt ist.
Gefällt dir nur, was du auf den ersten Blick erkennen kannst?’ fragt die Großmutter Elizabeth einmal. Das Interessante an diesem anspruchsvollen kleinen Roman für Kinder ist, daß auch die Erwachsenen, einschließlich der Großmutter, immer wieder aufs neue ihre Lehre aus diesem Satz ziehen müssen.
Nicht ganz einfache Lektüre, aber unbedingt eine Entdeckung wert.