Eines vorweg: dieses Buch täuscht! Sowohl durch sein Äußeres, als auch seinen - leider viel zu plakativen - Titel. Denn was erwartet man schon, wenn man - Überraschung - ein dünnes und lieblos gedrucktes Taschenbuch mit dem Titel "Die toten Gassen von Barcelona" in die Hand nimmt? Eben! Zudem fand ich die Leseprobe ein wenig seltsam und schwülstig. Doch alles in allem wurde ich sehr positiv überrascht.
Statt eines Trash-Thrillers habe ich hier einen gut durchdachten und "angenehm anderen" Krimi vorgefunden, der durch stilistisch ausgefeilte Sprache und einen erfreulichen Mangel an blutrünstiger Action besticht. Was mir in der Leseprobe noch seltsam erschien, macht im ganzen Buch durchaus Sinn. Denn in der Tat geht es, sogar beim Motiv des Täters, um Barcelona, um die Stadt und ihre Geschichte, ihre modernen Probleme, ihre den Touristen verborgene Seite. Somit war es durchaus stimmig, als "Heldin" und unfreiwillige Ermittlerin eine Journalistin und Verfasserin von Reiseführern auf den Plan zu schicken.
Zu bemängeln ist eigentlich nur, dass der Plot an einigen Merkwürdigkeiten und allzu vielen Zufällen aufgehängt ist. Für mich war es ein wenig "dick aufgetragen", dass die Heldin Anna Silber ausgerechnet im vorigen Jahr ihre gesamte Familie verloren hat, dass ihre Mutter ausgerechnet selber aus Barcelona stammte, und dass Anna ausgerechnet bei ihrem Vater, einem Privatdetektiv, in die Lehre ging. Und, natürlich, dass der Lebensgefährte ihres Freundes ausgerechnet der Leiter der Mordkommission ist.
Doch das wird durch die flüssige und sehr stimmungsvolle Handlung dann doch wieder aufgewogen. Zuerst wundert man sich, warum Anna, die eigentlich nach den Wurzeln ihrer Mutter suchen wollte, und außerdem einen Auftrag für einen Reiseführer in der Tasche hat, sich so sehr treiben lässt, und ihre Nase sofort in einen Fall von Serienmorden steckt. Aber im Laufe des Buches überzeugte mich Anna. Sie ist eben keine professionelle Ermittlerin, sondern eine Person, die sich von Stimmungen und menschlichen Schicksalen sehr beeinflussen lässt. Und das hat zu diesem Fall, zu dieser Stadt einfach gut gepasst. Das kann man näher nicht erläutern, ohne zu viel zu verraten.
Anna beschreibt den Fall aus der Ich-Perspektive, und das erlaubte es der Autorin, durch und durch subjektive Stimmungen einzuflechten. Seien es flanierende Einheimische, Hausbesetzer, heruntergekommene Altbau-Viertel, Straßen und Plätze, oder kulinarische Raffinessen - ich bin Anna gerne durch diese Stadt gefolgt, und konnte manches direkt vor mir sehen. Sicher ein anderes Bild von Barcelona, nicht so mystisch-verklärt wie bei Zafón, aber dennoch plastisch und realistisch.
Gut gefallen hat mir auch die Struktur des Buches. Die "Anna-Kapitel" wechseln sich ab mit kursiv gesetzten, sehr düsteren Einschüben, die - man ahnt es gleich - aus dem Leben des Täters berichten. Zuerst kann man wenig damit anfangen, aber wenn man sehr genau liest, entdeckt man in jedem folgenden "Anna-Kapitel" wieder einen kleinen Hinweis, der sich auf die Welt des Täters bezieht. Raffiniert gemacht! Außerdem sind jedem "Anna-Kapitel" zwei Zitate vorangestellt, die - wie man später merkt - aus der Handlung des Kapitels stammen, und die symptomatisch für das Geschehen in diesem Kapitel sind. Ungewöhnlich, aber atmosphärisch stimmig!
Das Ende wird angenehm offen gelassen - was Anna betrifft. Der Täter wurde zwar gefasst, und zwar in einem packenden Showdown, aber Annas weiterer Lebensweg ist nicht ganz klar. Es gibt da ein gewisses Angebot - doch wird sie es annehmen? Und wird sie sich nun für einen der zwei Männer, in die sie sich im Laufe des Buches verguckt, entscheiden? Ich kann nur vermuten, dass die Autorin sich hier ein Türchen offen halten wollte, um eventuell weitere Bände mit Anna Silber zu verfassen. Zu wünschen wäre es!
Abschließend möchte ich nur anmerken, dass ich dem Buch wünsche, dass es doch noch als Hardcover erscheint. Ich finde die Wahl, es zuerst als Taschenbuch herauszubringen, ausgesprochen unglücklich. Das erweckt einfach einen falschen Eindruck! Und das Cover hätte vom Layout her auch ansprechender gestaltet werden können. Zwar ist mir der Sinn der Marien-Statue durchaus klar, aber die Schrift ist im Verhältnis zum Bild proportional sehr unschön verteilt. Nun denn - alles Gute, Anna Silber! Vielleicht liest man sich mal wieder!