Originaltitel: Tales from the Town of Widwows & Chronicles from the Land of Men
Klappentext:
Man kann einfach nicht in Frieden leben, nicht in einer Welt, die von Männern regiert wird. Als eines schönen Sonntags zum wiederholten Mal Guerillakämpfer im kolumbianischen Dorf Mariquita einfallen, ist der Schrecken groß: Wieder plündern und morden sie, und wieder verschleppen sie bis auf den Priester jeden männlichen Bewohner, der älter als zwölf Jahre ist. Verlassen von Gott und Regierung droht Mariquita in Elend und Dreck zu versinken - bis Doña Rosalba viuda de Patiño, die Witwe des ehemaligen Dorfpolizisten, genug hat von all dem Chaos und Leid um sie herum. Resolut betritt sie das verwaiste Rathaus, lüftet kräftig durch und verteilt die Arbeit. Und siehe da, während draußen in den Bergen Männer gegen Männer kämpfen, rückt Mariquita mit jedem Jahr dem Himmel ein Stück näher. Wenn nur das Problemmit der Zeugung von Nachkommen nicht wäre, doch auch dafür scheint eine Lösung in Sicht.
Ein Roman voller Wunder über die Absurdität des Krieges, erzählt in der Tradition der großen südamerikanischen Literatur. Staunend folgt man James Cañón in seine Heimat, an einen Ort, an dem die Zeit einfach stehen bleibt, als die Männer im Krieg endlich zu weinen beginnen.
Über den Autor:
James Cañón, geboren 1968 in Kolumbien, ging nach Abschluss einer Ausbildung in der Werbebranche nach New York, um Englisch zu lernen. An der Columbia University studierte er Creative Writing. Einige seiner Erzählungen wurden in verschiedenen literarischen Zeitschriften veröffentlicht. 2001 wurde er mit dem Henfield Prize vor Excellence in Fiction ausgezeichnet. Der Tag an dem die Männer verschwanden ist sein erster Roman.
Meine Eindrücke:
Mariquita ist ein Dorf in Kolumbien, ein ganz normales Dorf mit einer Plaza, einer Kirche, einem Bordell, Männern, Frauen, Kindern, Tieren - bis zum 15. November 1992, dem Tag, an dem die Männer verschwinden. Sie verschwinden nicht einfach so, sondern werden von kommunistischen Guerillakämpfern verschleppt oder sofort getötet, wenn sie sich wehren. Zurück bleibt das Dorf, ausgeraubt, geschändet, ohne Männer, Väter, Freunde, Söhne, Verlobte. Alle männlichen Bewohner, die älter als zwölf Jahre waren, sind fort, und die zurückbleibenden Frauen wissen, dass sie sie nie wiedersehen werden.
Mariquita versinkt im Elend. Die Dorfbewohnerinnen hungern, die schwarzen Trauerkleider müssen immer wieder geflickt werden, es gibt keine Schule mehr, kein Wasser, keinen Strom. Die Häuser verfallen, Müll und Unrat sind überall. Nach einem Jahr beschließt Rosalba, die Witwe des Polizeisergeanten, dass sie endlich anfangen müssen, sich selbst zu helfen. Sie wird zur Bürgermeisterin ernannt und versucht, die Überlebensstrategien der Witwen zu koordinieren und Sauberkeit und Ordnung wiederherzustellen - mit mäßigem Erfolg. Einige Witwen sind ohne ihre Männer besser dran, doch die jungen, unverheirateten Frauen verzweifeln, weil sie als alte Jungfern sterben müssen und nie Kinder haben werden … Aber wohin sollen sie fortgehen, ungebildete Bauernmädchen, die sie sind?
Die Episoden über Mariquita werden von kurzen Kapiteln unterbrochen, die aus Männersicht geschrieben sind, von Guerilleros, Söldnern, Kriegsveteranen. Insofern finde ich den Originaltitel passender als den deutschen Titel. Die Geschichten der Frauen und der Männer kommen leichtfüßig daher, sind voller Witz und manchmal so absurd, dass man lachen und sich sagen möchte, das alles sei gar nicht so schlimm, aber es ist schlimm und außerdem hart, brutal, unmenschlich, was da passiert. Da wird gemordet, verstümmelt, vergewaltigt, gebrandschatzt. Doch es gibt auch Hoffnung; die Männergeschichten wandeln sich kaum merklich, gegen Ende gibt es in ihnen nicht mehr nur Gewalt und Brutaltität, sondern auch Ansätze von Gefühlen und Mit-Leidensfähigkeit.
Und die Frauen? Aus Mariquita wird eines Tages Neu-Mariquita. Nachdem irgendwann die letzte Uhr stehengeblieben und die Zeit verloren gegangen ist, entwickelt Rosalba einen neuen Kalender und eine weibliche Zeit. Sie sucht sich Verbündete und überzeugt die Dorfbewohnerinnen, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen, in welcher alles geteilt wird, jede nach ihren Fähigkeiten arbeitet und das Beste gibt. Die einstmals gläubigen Katholikinnen kommen wunderbar ohne die Kirche und vor allem ohne den Padre aus, der sich als letzter verbliebener Mann im Ort mehr als eines Verbrechens schuldig gemacht hatte. Doch das Problem, dass Neu-Mariquita eines Tages aussterben wird, bleibt, und daran können auch die sich zart entwickelnden Liebesbeziehungen der Witwen untereinander nichts ändern.
Ich ordne das Buch in "Zeitgenössisches" ein, auch wenn ungefähr ab der Mitte die Fiktion einer immer idealer werdenden weiblichen Welt überwiegt. Doch die in dem Roman auch beschriebenen Tatsachen der Lebenswirklichkeit in Kolumbien sind für mich zeitgenössisch.
Dieses Buch verdient es, gelesen zu werden. Es ist grotesk - man denke an die Versuche von Doña Emilia, in einer männerlosen Welt ihr Bordell weiterzuführen! - schonungslos, tiefsinnig, anrührend, liebevoll und, nun ja, weiblich. Es bringt zum Weiterdenken über Lebens- und Gesellschaftsmodelle, über Beziehungsgeflechte und die Frage, was man zum Leben braucht.