Die unsichtbare Brücke - Julie Orringer

  • Gebundene Ausgabe: 816 Seiten
    Verlag: Kiepenheuer & Witsch; Auflage: 1., Auflage (24. Februar 2011)
    Sprache: Deutsch


    Kurzbeschreibung
    Ein bewegendes Familienepos und die Geschichte einer großen Liebe.


    "Die unsichtbare Brücke" erzählt die ergreifende Geschichte der ungarisch-jüdischen Familie Lévi vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Paris und Budapest sind die Schauplätze dieses mitreißenden, lang erwarteten ersten Romans von Julie Orringer, in dessen Zentrum eine außergewöhnliche, immer wieder gefährdete Liebe steht. Budapest 1937. Voller Hoffnung besteigt der junge Andras Lévi den Zug nach Paris, um dort Architektur zu studieren - und entdeckt eine Stadt der Theater und der Kunst, der Studentenpartys und politischen Revolten. Als er die neun Jahre ältere Claire Morgenstern kennenlernt, beginnt eine leidenschaftliche Amour fou, die überschattet wird von einem dunklen Geheimnis aus der Vergangenheit der Ballettlehrerin. Es ist der Beginn einer großen, immer wieder Prüfungen unterworfenen Liebe. Auch Tibor und Mátyás, Andras' Brüder, versuchen in dieser bedrohten Zeit ihr Glück zu finden. Als der Krieg die Brüder Lévi in Budapest zusammenführt, ist das keine Heimkehr, sondern der Beginn einer Odyssee mit ungewissem Ende: Ein Kampf ums Überleben beginnt - gegen Hunger, Verfolgung und einen Schatten aus Claires früherem Leben, der trotz aller Bemühungen unüberwindbar zu sein scheint. In großartigen Bildern lässt Julie Orringer eine untergegangene Welt wiederauferstehen, schildert die prächtige Architektur und glanzvolle Bühnenkultur der beiden Metropolen vor Kriegsbeginn und führt uns mitten hinein in den Horror des Zweiten Weltkriegs, der trotz aller Brutalität die Bande zwischen Claire und Andras und seiner Familie nicht zerreißen kann.


    Über den Autor
    Julie Orringer, 1973 in Miami, Florida, geboren, debütierte 2003 mit dem Erzählungsband "Unter Wasser atmen" (2005), der in 10 Sprachen erschien, mit mehreren Preisen ausgezeichnet und von der Kritik enthusiastisch empfangen wurde. Ihr Roman "Die unsichtbare Brücke" stand auf der Bestsellerliste der New York Times und wird international gefeiert.


    Meine Meinung


    "Ein Alphabet des Verlusts, ein Katalog der Trauer."


    Ich habe von Julie Orringer bisher nur den Erzählband "Unter Wasser atmen" gelesen, der zwar gut geschrieben war, mich aber nicht wirklich nachhaltig beeindrucken konnte. An ihr neues Buch "Die unsichtbare Brücke" hatte ich dementsprechend auch nicht unbedingt hohe Erwartungen ... was ich vorweg aber schon mal sagen kann, ist, dass alle Erwartungen, die ich hatte, weit - sehr weit - übertroffen worden sind.


    Julie Orringer erzählt in ihrem Roman die Geschichte von einer ungarischen Familie. Die Hauptfigur des Romans ist Andras Lévi, der 1937 nach Paris zieht um Architektur zu studieren. Dort verliebt er sich in die schöne Ballettlehrerin Claire. Als der Krieg ausbricht und gleichzeitig sein Visum ausläuft, ist er gezwungen mit Claire zurück nach Budapest zu reisen, um sich dort ein neues ausstellen zu lassen. Beiden ist, als sie abreisen, nicht bewusst, dass sie Paris nie wieder sehen werden. Andras wird in Ungarn zum Arbeitsdienst eingezogen, genauso wie seine Brüder, aber er versucht in Budapest alles, um seine kleine Familie zu beschützen und am Leben zu erhalten. In einem Nachwort erklärt Julie Orringer, dass die Vorbilder für Andras und Claire, ihre eigenen Großeltern gewesen sind.


    Julie Orringer erzählt unheimlich detailliert. Als Leser hatte ich das Gefühl, mit Andras Architektur zu studieren und dabei auch noch selbst etwas zu lernen. Später sind die Beschreibungen der Judenverfolgung und der Arbeitsdienste, die Andras leisten muss, so detailgetreu und realisitisch, dass das Lesen an vielen Stellen nur sehr schwer zu ertragen ist.


    Zitat

    "Anderthalb Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder: Wie sollte ein Mensch so eine Zahl begreifen? Andras wusste, dass in der Synagoge auf der Dohány utca dreitausend Personen Platz fanden. Um anderthalb Millionen unterzubringen, hätte man das Gebäude [...] fünfhundert Mal nachbauen müssen. Und sich dann vorzustellen, wie jede dieser fünfhundert Synagogen bis auf den letzten Platz besetzt war, sich jeden Mann, jede Frau und jedes Kind darin als einzigartigen, unersetzlichen Menschen vorzustellen [...], jeden Einzelnen mit seinen Wünschen und Ängsten, mit einer Mutter und einem Vater, einem Geburtsort, einem Bett, einer ersten Liebe, einem Netz von Erinnerungen, einem Vorrat an Geheimnissen, einer Haut, einem Herz, einem unendlich hoch entwickelten Gehirn [...] - wie sollte man das auch nur ansatzweise begreifen?"


    Es fällt mir schwer, alles über das Buch sagen zu können, was ich sagen möchte, da die Gefahr besteht, zu viel vorwegzunehmen. Fast jede Person in dem Buch hat eine faszinierende und interessante Geschichte: Claire, Andras Bruder Tibor, oder auch Claires Familie, die in Ungarn lebt. Ich müsste selber einen Roman schreiben, um all diese Zusammenhänge und Verwicklungen darstellen zu können. "Die unsichtbare Brücke" umfasst mehr als 800 Seiten und das Buch ist nicht nur äußerlich dick, sondern auch unheimlich dicht geschrieben. An vielen Stellen musste ich immer wieder langsamer lesen und habe aus diesem Grund auch länger für dieses Buch gebraucht, als für viele andere Bücher. Es passiert sehr viel, es gibt eine Vielzahl an Personen, Verzweigungen, Geschichtsstängen. Diese vielen Fäden verliert Orringer aber an keiner Stelle aus den Augen, es wird immer wieder alles zusammengeführt. Stringent und sehr gut komponiert, führt Orringer den Leser durch die Geschichte. Den einzigen Vorwurf, den man der Autorin möglicherweise machen kann, ist, dass manches vielleicht zu stark konstruiert ist. Ich bin jedoch so in dieses Leseerlebnis eingetaucht und darin aufgegangen, dass dies für mich kein Kritikpunkt sein kann.


    Wenn ich könnte, würde ich gerne mehr als 10 Punkte vergeben, für dieses großartige Buch. Ein Buch über die ungarischen Juden und deren Schicksal, einem Teil der Geschichte, der bisher nur wenig Aufmerksamkeit bekommen hat. Da ich keine Worte habe, um diese Rezension zu einem - dem Buch angemessenen - Fazit zu führen, an dieser Stelle nur noch einen Smilie: :anbet

  • Zitat

    Original von Pelican
    Schön, daß Dir das Buch so gut gefallen hat. Das gibt mir das Gefühl, daß meine Entdeckung aus dem gestrigen Einkaufsbummel auch wirklich eine war und ich es nicht weit weg legen sollte...


    Nein, weit weg solltest du es wirklich nicht legen! Ich beneide dich, dass du dieses Leseerlebnis noch vor dir hast und bin schon gespannt, wie es dir gefallen wird ... :wave

  • Ich habe das Buch bereits letzten Monat gelesen und war davon sehr angetan, obwohl es die ein oder andere Schwäche hat, insbesondere die, dass sämtliche Figuren für mich nicht wirklich greifbar waren.
    Der Lebenslauf der Protagonisten ist sehr gut erzählt. Die anfängliche Zeit Andras` in Paris, die Welt der Theater und der Architektur, aber auch eine gewisse Leichtigkeit, mit der das Leben -trotz aller Schwierigkeiten- gelebt wird, fesseln den Leser. Dass die Beziehung zwischen Andras und Klara teils arg blumig ist und dass das Schweigen um Klaras Geheimnis etwas zu sehr ausgereizt wird, kann man dabei vernachlässigen.
    Dann wechselt der Schauplatz, denn es geht zurück nach Ungarn und auch in den Krieg und seine nie enden wollenden Gräuel.
    Auf 816 Seiten gibt es nicht eine Minute Langeweile, da die Spannung stetig gehalten wird und man wissen will, ob und wie die Personen dieser Hölle entrinnen können.
    Die eingangs erwähnte Distanz zu den Figuren erweist sich dann hier als vorteilhaft, denn so sind einige Geschehnisse für den Leser leichter zu ertragen.


    Sehr lesenswert!


    Viele Grüße
    Kalypso

  • Zitat

    Original von Eskalina
    Oh, nun hast du es doch vor mir geschafft. Ich muss es nun aber unbedingt endlich lesen, denn deine Rezi klingt ja wirklich sehr positiv und nun freue ich mich umso mehr darauf. :wave


    Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass du es vor mir rezensierst, da du es ja schon recht lange liest ... ich freue mich auf jeden Fall schon sehr auf deine Eindrücke!


    Kalypso
    Ja, blumig trifft es eigentlich recht gut. Vor allem die Beziehung zwischen Klara und Andras läuft an einigen Stellen doch Gefahr kitischig zu erscheinen ...

  • buzz, vielen Dank für deine großartige Rezension. Das Buch steht schon im Regal und rutscht nun merklich nach vorne :wave

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Ich habe gestern abend damit angefangen und bin nach den ersten 120 Seiten sehr angetan. Kalypsos Aussage, daß die Figuren nicht greifbar wären, finde ich sehr treffend, dennoch ist mir dies nicht unangenehm. Mir kommt es vor, als würde ich neben Andras laufen, die Welt aus seiner Warte sehend, ohne seinem Innerstem aber wirklich nahe zu kommen. Ich finde dieses staunende Sehen aber durchaus faszinierend.


    Ich bin gespannt, wie es weiter geht.

  • Ich habe es heute beendet und es war ein beeindruckendes Buch. Dass die Figuren nicht greifbar waren, habe ich auch so empfunden, und auch mir erging es so, dass ich keine Probleme damit hatte, die Handlung aus der Sicht von Andras zu verfolgen. Es ist ja eine nacherzählte Familiengeschichte und da hat es für mich den Einblick in die Gedankenwelt der einzelnen Personen nicht gebraucht. Außerdem hätte das Buch dann wahrscheinlich 1600 Seiten haben müssen... :wave

  • Es freut mich, dass dir das Buch auch gefallen hat, Eska ... :wave


    Zitat

    Original von Pelican
    Mir kommt es vor, als würde ich neben Andras laufen, die Welt aus seiner Warte sehend, ohne seinem Innerstem aber wirklich nahe zu kommen. Ich finde dieses staunende Sehen aber durchaus faszinierend.


    An machen Stellen habe ich mich fast an "Der Turm" von Uwe Tellkamp erinnert gefühlt, mit dem man auch in der Hand durch Dresden laufen könnte. Ich finde die Schilderungen und Beschreibungen von Paris und später dann auch von Budapest wirklich beeindruckend und sehr realistisch und lebensnah.

  • Meine Meinung: Selten ist es mir so schwer gefallen, nach dem ich ein Buch gelesen hatte, dessen Nachhall zu verarbeiten, wie bei diesem beklemmenden Stück Geschichte. „Die unsichtbare Brücke“ von Julie Orringer gehört zu den Büchern, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen und von dem ich mir sicher bin, dass ich auch nach Jahren noch an dieses beeindruckende Werk denken werde.


    Julie Orringer erzählt die Familiengeschichte ihrer Großeltern Andras und Claire. Sie beginnt 1937 als Andras nach Paris kommt, um Architektur zu studieren. Der kommende Krieg wirft schon seine Schatten voraus und Andras bekommt immer stärker den wachsenden Antisemitismus zu spüren. Er lernt die neun Jahre ältere Ballettlehrerin Claire Morgenstern kennen und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Als sein Visum in Frankreich nicht verlängert wird, reist er zusammen mit Claire zurück nach Budapest und wird dort ebenso wie seine beiden Brüder zum Arbeitsdienst eingezogen. Immer stärker werden die Schikanen gegen die ungarischen Juden im eigenen Land in dem sie geboren sind und für das ihre Väter im vorigen Krieg gekämpft haben, doch niemand kann sich vorstellen, was der Familie noch alles bevorsteht…


    Wie auch bei anderen Katastrophen der Menschheit, die in ihren grausamen Ausmaßen so groß und daher so abstrakt zu fassen sind, braucht es die Geschichte einzelner Personen, um zu nachfühlen zu können, was geschehen ist. Zusammen mit Andras und Claire erlebt man die Zeitgeschichte und indem man sie im Laufe des Buches immer besser kennenlernt, leidet man mit ihnen unter dem Unrecht, dass ihnen und ihrem Volk angetan wird. Das Schicksal der ungarischen Juden ist nicht mehr nur eine lange zurückliegende Sache aus alter Zeit – durch die beiden Protagonisten und ihre Familien erlebt man mit, was es bedeutete, zum Arbeitsdienst einberufen zu werden, zu hungern, oder sich mit dem allgegenwärtigen Verlust beschäftigen zu müssen. Man erschrickt über das, was Menschen anderen Menschen antun konnten und noch können.


    Der Stil Julie Orringers ist eher nüchtern zu nennen. Sie braucht keine Ausschmückungen, da die Geschehnisse für sich sprechen. Sie scheint keine Partei zu ergreifen, obwohl das, was sie schildert, so unendlich wütend macht und erschüttert.


    Die Verluste, die viele Menschen erleiden mussten, sind in vielerlei Hinsicht beklemmend und man mag sich eigentlich nicht freiwillig damit beschäftigen, dass so etwas der eigenen Familie passieren könnte. Einer ganzen Generation werden Gesundheit, Vermögen und berufliche Zukunft genommen. Viele überleben es nicht und die, die es schaffen, sind schwer traumatisiert.
    Im Mittelpunkt der Handlung steht immer Andras aus dessen Sicht das Ganze erzählt wird. Mit seinen Augen wirft man einen Blick auf die aus den Fugen geratene Welt. Es braucht keine tieferen Einblicke in die Gedanken – und Gefühlswelt der einzelnen Personen, es reicht schon, wenn man zusammen mit ihm sieht, was mit ihm und den Menschen geschieht, die ihm nahe stehen. Hier schafft die Distanz zum Erzähler mehr Nähe, als man an einigen Stellen ertragen kann und möchte. Allein das Lesen des Erlebten weckte so viele Emotionen, dass ich an einigen Stellen Angst davor hatte, die nächsten Seiten zu lesen.


    Man kann nur ansatzweise versuchen, diesem Buch gerecht zu werden. Für mich war es ein erschütterndes und beeindruckendes Leseerlebnis – ein Buch, dass ich so schnell nicht vergessen werde und das meiner Meinung nach noch sehr viele Leser verdient hat.


    buzzaldrin - das Zitat, das du genannt hast, hatte ich mir auch markiert....

  • Eskalina
    Eine wunderbare Rezi. Nun führt für mich wirklich kein Weg mehr an diesem Buch vorbei. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Tolle Rezi, Eska.


    Zitat

    Original von Eskalina
    Der Stil Julie Orringers ist eher nüchtern zu nennen. Sie braucht keine Ausschmückungen, da die Geschehnisse für sich sprechen. Sie scheint keine Partei zu ergreifen, obwohl das, was sie schildert, so unendlich wütend macht und erschüttert.


    In diesem Punkt kann ich Dir nach der Hälfte des Romans allerdings nicht zustimmen. Orringers Erzählstil hat zwar eine gewisse Distanz, aber da die Sprache teilweise sehr bildhaft ist, sie durch die Details, auf die sie den Leserblick lenkt, manchmal schwelgerische, opulente oder wie Kalypso schrieb blumige Darstellungen erreicht, empfinde ich die Sprache in keiner Weise als nüchtern.

  • Dieses Zitat würde ich durchaus auch als nüchtern bezeichnen.


    Aber gerade wenn es um Beschreibungen von Klara geht, um Liebesszenen etc. sind die doch schon sehr blumig. Auch bei Festen lenkt die Autorin die Blicke häufig auf Details, die nichts zur Sache tun, aber die Szenerie natürlich plastisch werden lassen und atmosphärisch machen. Es gibt Szenen, bei denen ein Maler sicherlich auf Basis der Beschreibungen klare Bilder malen könnte.